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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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ich sehe, wissen Sie, was aktuell vorgeht, junger Mann.‹
    ›Es ist meine Überzeugung, dass uns das Studium der Geschichte dabei helfen sollte, die Gegenwart zu verstehen, und wir sie keineswegs zur Flucht daraus missbrauchen sollten.‹
    ›Sehr weise gesprochen. Nun denn, um Ihre Neugier zu befriedigen: Nagy ist bei unserem Volk sehr beliebt, und er führt Reformen durch, die im Einklang stehen mit unserer glorreichen Geschichte.‹
    Ich brauchte eine Minute, um zu begreifen, dass Tante Èva auf vorsichtige Weise gar nichts sagte, und eine weitere, um mir zu überlegen, welche diplomatische Strategie es ihr wohl erlaubt haben mochte, ihre Position bei der Regierung durch das Auf und Ab sowjetisch-kontrollierter Politik und pro-ungarischer Reformen zu behalten. Wie immer ihre persönliche Meinung über Nagy aussehen mochte, er führte die Regierung an, die sie beschäftigte. Vielleicht war es gerade die von ihm geschaffene Öffnung Budapests, die es ihr, einer hochrangigen Ministerialbeamtin, erlaubte, einen Amerikaner zum Abendessen einzuladen. Das Leuchten ihrer schönen dunklen Augen konnte eine Bestätigung dafür sein, wenn ich mir auch nicht sicher war. Aber wie sich später herausstellen sollte, war meine Annahme richtig gewesen.
    ›Und nun, mein Freund‹, dolmetschte Helen, ›sollten wir dir die Gelegenheit zu etwas Schlaf vor deinem großen Vortrag morgen geben. Meine Tante freut sich darauf und wird dich anschließend wissen lassen, wie er ihr gefallen hat.‹ Tante Éva nickte mir warmherzig zu, und ich konnte nicht anders, als ebenso herzlich zurückzulächeln. Der Kellner erschien neben ihr, als hätte er sie gehört. Ich unternahm den schwachen Versuch, nach der Rechnung zu fragen, obwohl ich keinerlei Ahnung hatte, wie ich mich der Etikette gemäß zu verhalten und ob ich am Flughafen tatsächlich genug Geld eingetauscht hatte, um all die wunderbaren Speisen zu bezahlen. Wenn es jedoch je eine Rechnung gegeben haben sollte, so verschwand sie, bevor ich sie zu Gesicht bekam, und wurde unbemerkt bezahlt. In der Garderobe half ich Tante Éva in ihre Jacke, worum ich mit dem maître wetteiferte, und wir segelten zurück zum wartenden Auto.
    Am Fuß jener herrlichen Brücke murmelte Tante Éva ein paar Worte, die ihren Chauffeur anhalten ließen. Wir stiegen aus und sahen hinüber auf das leuchtende Pest und hinunter auf das sich kräuselnde Wasser. Der Wind war etwas kühl geworden, fast scharf, verglichen mit der balsamweichen Luft Istanbuls, und ließ mich die Größe der zentraleuropäischen Ebenen erahnen, die sich hinter dem Horizont erstreckten. Die Szenerie vor uns war etwas, was ich mein ganzes Leben hatte sehen wollen. Ich konnte kaum glauben, dass ich hier stand und auf die Lichter von Budapest sah.
    Tante Éva sagte mit leiser Stimme etwas, und Helen übersetzte: ›Unsere Stadt wird ihre Größe nie verlieren.‹ Später sollte ich mich lebhaft an diesen Satz erinnern. Zwei Jahre später klang er mir wieder im Ohr, als ich erfuhr, wie groß Éva Orbâns Engagement für die neue Reformregierung tatsächlich gewesen war: Ihre beiden erwachsenen Söhne wurden während des Ungarnaufstands auf einem Platz in Budapest von sowjetischen Panzern getötet, und Éva selbst floh über die Grenze ins nördliche Jugoslawien, in dessen Dörfern sie zusammen mit fünfzehntausend anderen Flüchtlingen aus dem sowjetischen Marionettenstaat Zuflucht fand. Helen schrieb ihr viele Male und drängte darauf, dass sie uns erlaubte, sie in die Vereinigten Staaten zu holen, aber Éva weigerte sich, auch nur einen Antrag auf Ausreise zu stellen. Vor ein paar Jahren habe ich noch einmal versucht, sie ausfindig zu machen, aber ohne Erfolg. Als ich Helen verlor, verlor ich auch die Verbindung zu Tante Éva.

 
    40
     
     
     
    Als ich am nächsten Morgen aufwachte, starrten mich die vergoldeten Putten über mir an, und einen Moment lang wusste ich nicht, wo ich war. Es war ein unangenehmes Gefühl. Ich fühlte mich entwurzelt, weiter von zu Hause entfernt, als ich es mir je vorgestellt hatte, und ich war unfähig zu entscheiden, ob der Ort, an dem ich mich befand, nun New York, Istanbul, Paris oder irgendeine andere Stadt war. Ich hatte das Gefühl, aus einem Albtraum aufzuwachen, ohne mich an ihn erinnern zu können. Ein Schmerz in meinem Herzen rief mir nachdrücklich Rossis Verschwinden ins Gedächtnis, ein Gefühl, das mich oft gleich nach dem Aufwachen erfüllte, und ich fragte mich, ob mich mein Traum an einen

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