Der Historiker
finsteren Ort geführt hatte, wo ich ihn vielleicht gefunden hätte, wäre ich nur lange genug geblieben.
Ich fand Helen beim Frühstück im Speisesaal des Hotels, vor ihr ausgebreitet lag eine ungarische Zeitung. Der Anblick der gedruckten Sprache vermittelte mir ein Gefühl von Hilflosigkeit, da ich nicht ein Wort der Schlagzeilen verstand. Helen begrüßte mich mit einem munteren Winken, aber mein verlorener Traum, diese Schlagzeilen und der schnell näher rückende Vortrag mussten sich in meinem Ausdruck niederschlagen, denn sie sah mich fragend an, als ich an den Tisch kam. ›Schau nicht so traurig. Denkst du gerade wieder an osmanische Grausamkeiten?‹
›Nein, nur an internationale Kongresse.‹ Ich setzte mich zu ihr, nahm mir eine Serviette und bediente mich an ihrem Korb mit frischen Brötchen. So schäbig das Hotel war, schien man doch großen Wert auf makellose Tischwäsche zu legen. Die Brotchen, mit Butter und Erdbeermarmelade, waren ausgezeichnet, genau wie der Kaffee, der ein paar Minuten später gebracht wurde. Da gab es keine Bitternis.
›Mach dir keine Sorgen‹, sagte Helen. ›Du wirst sie – ‹
›Alle vom Sockel hauen?‹, schlug ich vor.
Sie lachte. ›Du verbesserst mein Englisch jeden Tag‹, sagte sie. ›Oder auch nicht.‹
›Deine Tante gestern Abend hat mich sehr beeindruckt.‹ Ich bestrich ein weiteres Brötchen mit Butter.
›Das habe ich gemerkt.‹
›Sag mir, wie hat sie das nur geschafft, als Rumänin hier in so eine Position zu kommen? Wenn ich das fragen darf.‹
Helen nippte an ihrem Kaffee. ›Ich glaube, es war eine Fügung des Schicksals. Ihre Familie war sehr arm – sie lebten in Transsilvanien von einem kleinen Stück Land in der Nähe eines Dorfes, das es heute nicht einmal mehr gibt, wie ich gehört habe. Meine Großeltern hatten neun Kinder, Éva war das dritte. Mit sechs Jahren schickten die Eltern sie zum Arbeiten, weil sie das Geld brauchten und nicht genug hatten, um sie zu ernähren. Sie arbeitete im Haus von wohlhabenden Ungarn, denen fast alles Land um das Dorf herum gehörte. Zwischen den Kriegen gab es dort viele ungarische Landbesitzer. Nach dem Vertrag von Trianon hatten sie sich plötzlich auf der falschen Seite der Grenze wiedergefunden.‹
Ich nickte. ›Mit dem Vertrag wurden die Grenzen nach dem Ersten Weltkrieg neu gezogen, nicht wahr?‹
›Sehr gut.‹ Éva arbeitete also schon für die Familie, als sie noch sehr jung war. Manchmal gaben sie ihr sonntags frei, und sie bewahrte sich ein sehr enges Verhältnis zu ihrer eigenen Familie. Als sie siebzehn Jahre alt war, entschieden sich die Leute, für die sie arbeitete, zurück nach Budapest zu gehen, und sie nahmen sie mit. In Budapest dann traf sie einen jungen Mann, einen Journalisten und Revolutionär namens Jânos Orbân. Die beiden verliebten sich ineinander und heirateten, und er überlebte seinen Kriegsdienste Helen seufzte. ›So viele junge Ungarn kämpften im Ersten Weltkrieg in ganz Europa, weißt du, und sie endeten in Massengräbern in Polen, Russland… Orbân jedenfalls erlangte in der Koalitionsregierung nach dem Krieg eine einflussreiche Position, und nach unserer glorreichen Revolution wurde er mit einem Kabinettsposten belohnt. Er kam jedoch bald schon bei einem Autounfall ums Leben, und Éva zog ihre Söhne allein groß und trat in seine politischen Fußstapfen. Sie ist eine erstaunliche Frau. Ich habe nie wirklich herausbekommen, was ihre eigenen Überzeugungen sind. Manchmal habe ich das Gefühl, dass sie eine emotionale Distanz zur Politik bewahrt, als wäre es nichts als ihr Beruf. Ich glaube, mein Onkel war ein leidenschaftlicher Politiker, ein überzeugter Anhänger der leninistischen Lehre und ein Bewunderer Stalins, bis seine Grausamkeiten hier bekannt wurden. Ich kann nicht sagen, ob meine Tante genauso war, aber sie hat sich eine bemerkenswerte politische Laufbahn erarbeitet. Ihre Söhne hatten sämtliche Privilegien, und sie setzte ihren Einfluss auch dazu ein, mir zu helfen, wie ich es dir erzählt habe.‹
Ich hatte aufmerksam zugehört. ›Und du und deine Mutter, wie seid ihr hergekommen?‹
Helen seufzte noch einmal. ›Meine Mutter ist zwölf Jahre jünger als Éva‹, sagte sie, ›und sie war immer Évas Liebling unter den jüngeren Geschwistern. Als Éva nach Budapest ging, war meine Mutter erst fünf Jahre alt. Mit neunzehn wurde sie schwanger und hatte keinen Mann. Sie hatte Angst, dass meine Eltern und alle anderen im Dorf hinter ihr
Weitere Kostenlose Bücher