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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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Schulter unter der schwarzen Kostümjacke zeigte mir – und hoffentlich nur mir – ihr fast perfekt verborgenes Bedürfnis zu lachen. Ich versuchte, ebenfalls ehrwürdig auszusehen und mich daran zu erinnern, dass ich das alles, selbst das jetzt, für Rossi tat.
    Als Professor Sandor mit seinem Dröhnen fertig war, hielt ein kleiner glatzköpfiger Mann einen Vortrag, der sich mit der Hanse zu beschäftigen schien. Ihm folgte eine grauhaarige Frau mit blauem Kleid, die auf die Geschichte Budapests einging, ohne dass ich auch nur ein Wort verstanden hätte. Der letzte Redner vor dem Essen war ein junger Historiker von der Londoner Universität. Er schien etwa in meinem Alter zu sein, und zu meiner großen Erleichterung sprach er Englisch, wobei ein Student der Philologie eine Übersetzung seines Vortrags ins Deutsche lieferte. (Es war schon merkwürdig, dachte ich, hier so viel Deutsch zu hören, weniger als zehn Jahre, nachdem die Deutschen Budapest beinahe völlig zerstört hatten, aber dann erinnerte ich mich daran, dass Deutsch die lingua franca der Österreichisch-Ungarischen Monarchie gewesen war.) Professor Sandor stellte den Engländer als Hugh James vor, einen Professor für osteuropäische Geschichte.
    Professor James war ein stämmiger Mann mit einem braunen Tweedanzug und olivfarbener Krawatte. In dieser Umgebung sah er so unbeschreiblich englisch aus, dass ich ein Lachen unterdrücken musste. Er blinzelte dem Publikum zu und lächelte angenehm. ›Ich hatte nie damit gerechnet, mich eines Tages hier in Budapest wiederzufinden‹, sagte er und ließ den Blick über uns schweifen, ›aber es freut mich sehr, in dieser wunderbarsten Stadt Mitteleuropas, am Tor zwischen Ost und West sein zu dürfen. So würde ich denn gern ein paar Minuten Ihrer Zeit in Anspruch nehmen, um der Frage nachzugehen, welches Erbe die osmanischen Türken zurückließen, als sie sich 1685 nach ihrer gescheiterten Belagerung Wiens zurückzogen.‹
    Er machte eine Pause und lächelte zu dem Sprachstudenten hinüber, der uns seinen ersten Satz mit ernster Miene auf Deutsch vorlas. So fuhren sie fort und wechselten zwischen den Sprachen, aber Professor James entfernte sich offenbar mehr von den Seiten vor sich, als er auf ihnen blieb, denn je weiter sein Vortrag fortschritt, desto verwirrtere Blicke warf ihm der Student immer wieder zu. ›Natürlich haben wir alle gehört, wie das Croissant erfunden wurde, der Beitrag eines Pariser Konditors zu Wiens Sieg über die Osmanen. Das Croissant repräsentierte den zunehmenden Mond auf den osmanischen Flaggen, ein Symbol, das der Westen bis auf den heutigen Tag mit Kaffee zum Frühstück verspeist.‹ Er ließ den Blick über das Auditorium schweifen und schien zu begreifen, was auch ich gerade begriffen hatte, dass nämlich die meisten dieser neugierigen, eifrigen ungarischen Historiker nie in Paris oder Wien gewesen waren. ›Ja… nun, ich denke, dass sich das Erbe der Osmanen tatsächlich in einem Wort zusammenfassen lässt: Ästhetik.‹
    Er beschrieb die Architektur eines halben Dutzends mittel- und osteuropäischer Städte, sprach von Spielen und Moden, Gewürzen, Raumgestaltung und Design. Ich lauschte ihm mit einer Faszination, die nur zum Teil an meiner Erleichterung lag, jedes seiner Worte verstehen zu können. Vieles von dem, was wir gerade erst in Istanbul gesehen hatten, trat mir wieder vor Augen, als James von den türkischen Bädern Budapests und den protoosmanischen, österreichisch-ungarischen Gebäuden Sarajevos sprach. Als er den Topkapi-Palast beschrieb, wurde mir plötzlich bewusst, wie ich heftig nickte, und dachte, ich sollte mich wohl etwas mehr zurückhalten.
    Rauschender Applaus folgte auf den Vortrag, und dann lud uns Professor Sandor ein, zum Mittagessen in den Speisesaal hinüberzugehen. Im Gedränge von Akademikern und Tellern fand ich Professor James, gerade als er sich an einen Tisch setzte. ›Darf ich mich zu Ihnen gesellen?‹
    Lächelnd sprang er wieder auf. ›Sicher, sicher. Hugh James. Schön, Sie kennen zu lernen.‹ Auch ich stellte mich vor, und wir schüttelten uns die Hände. Als ich ihm gegenübersaß, musterten wir einander mit freundlicher Neugier. ›Ah‹, sagte er, ›Sie sind also der Hauptredner? Ich freue mich schon sehr auf Ihren Vortrag.‹ Aus der Nähe sah er zehn Jahre älter aus als ich. Er hatte ganz außergewöhnliche helle braune Augen, etwas wässrig und hervorstehend wie die eines Bassets. Auf Grund seiner Aussprache wusste ich

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