Der Historiker
und über allem wölbte sich der Himmel, weit und blau. Von der anderen Seite der Wiese aus konnte ich weit unter mir eine ähnliche Lichtung erkennen, die ein weiß gekleideter Schäfer mit einem großen braunen Hut beherrschte. Seine Herde wogte in Wolken um ihn herum, und ich hatte das Gefühl, dass er dort schon seit Trajans Tagen so auf seinen Stab gestützt stehen mochte. Großer Friede erfüllte mich. Der grausige Hintergrund unserer Unternehmung wich aus meinen Gedanken, und ich dachte, ich könnte hier oben auf dieser duftenden Wiese gut ein Weltalter oder zwei verweilen, genau wie der Schäfer dort unten.
Nachmittags wurde der Weg steiler und steiler und führte endlich in ein Dorf, das, wie Georgescu sagte, der Burg am nächsten lag. Dort saßen wir eine Weile in der örtlichen Schänke und tranken ein Glas von jenem sehr kräftigen Schnaps, den sie palinca nennen. Unser Fahrer erklärte uns, dass er hei den Pferden bleiben wolle, während wir zu Fuß zur Burg hinaufstiegen. Unter keinen Umständen komme er mit uns dort hinauf und werde schon gar nicht die Nacht mit uns in den Ruinen verbringen. Als wir ihn dennoch drängten, knurrte er: »Pentru nimica în lime«, und legte seine Hand auf das Lederband um seinen Hals. Georgescu erklärte, das bedeute »auf keinen Fall«. Der Mann war so widerspenstig, dass Georgescu am Ende lachen musste und sagte, der Weg sei nicht zu schwer, und das letzte Stück müsse man sowieso zu Fuß gehen. Ich wunderte mich ein wenig darüber, dass Georgescu im Freien schlafen wollte, statt ins Dorf zurückzukehren, und um ehrlich zu sein, war auch ich nicht gerade begeistert von einer Nacht dort oben, aber ich sagte nichts.
Schließlich ließen wir den Burschen mit seinem Schnaps und die Pferde mit ihrem Wasser zurück und zogen mit Bündeln voller Essen und Decken auf dem Rücken Richtung Burg. Während wir noch über die Dorfstraße gingen, dachte ich wieder an die Geschichte der Bojaren von Targoviste, wie sie sich zu der alten verfallenen Burg geschleppt hatten, und dann dachte ich auch noch an das, was ich in Istanbul gesehen hatte – oder wenigstens zu sehen geglaubt hatte –, und ein ziemliches Unbehagen ergriff mich.
Der Weg verengte sich schon bald zu einem schmalen Fahrweg und dann zu einem Fußweg durch den Wald, der steil vor uns aufstieg. Aber erst das letzte Stück war eine wirkliche Kletterpartie, mit der wir jedoch gut zurechtkamen. Plötzlich standen wir, von einem kräftigen Wind umweht, auf einem Hügel, einem felsigen Dorn, der aus dem Wald hervorbrach. Und ganz oben auf diesem Grat, einem Wirbel höher als alles andere, krallten sich zwei zerfallene Türme und ein Gewirr von Mauern fest – die Überbleibsel von Draculas Burg. Der Ausblick war atemberaubend. Der Fluss Arges blinkte kaum noch aus der Schlucht herauf, und hier und da sah man Dörfer neben ihn getupft. Weit im Süden wellten sich flachere Hügel, von denen Georgescu sagte, dass es die Ausläufer der Südkarpaten, das Hügelland der nördlichen Walachei seien. Im Norden türmten sich die Berge, einige von ihnen mit schneebedeckten Spitzen. Wir zogen weiter zum Adlernest.
Georgescu führte uns über herabgefallene Steinbrocken, und endlich standen wir mitten in der Ruine. Die Burg war klein gewesen, das sah ich gleich, und seit langem den Elementen überlassen. Wildblumen jeder Art, Flechten, Moos, Pilze und verkrüppelte, sturmgebeugte Bäume hatten ihr Heim darin gesucht, und die beiden noch stehenden Türme zeichneten knochige Silhouetten an den Himmel. Georgescu erklärte mir, dass die Burg ursprünglich fünf Türme gehabt habe, von denen Draculas Untergebene nach türkischen Eindringlingen Ausschau halten konnten. In dem Burghof, in dem wir standen, hatte es einst einen tiefen Brunnen gegeben, der bei Belagerungen die Wasserversorgung sicherstellte und, folgt man der Legende, einen geheimen Ausgang in eine Höhle bot, die bis tief hinunter zum Arges führte. Durch diesen Tunnel war Dracula 1462 vor den Türken geflohen, nachdem er die Burg mit Unterbrechungen über fünf Jahre lang genutzt hatte. Offenbar war er nie wieder zurückgekehrt. Georgescu glaubte, die Burgkapelle identifiziert zu haben, hinten an einem Ende des Hofes, wo wir in ein halb zerfallenes Gewölbe blickten. Vögel flogen in den Türmen ein und aus, Schlangen und kleine Tieren raschelten vor uns außer Sichtweite, und ich hatte das Gefühl, dass sich die Natur bald schon den Rest dieser Zitadelle holen würde.
Als
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