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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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Führer über den Turm erzählte, ließ mich erschaudern. Er wurde von Vlad Dracula nicht nur als Wachturm während der Zeit der türkischen Invasionen genutzt, sondern auch als Logenplatz, von wo aus er den Pfählungen beizuwohnen pflegte, die unten im Hof, am Fuß des Turms, vorgenommen wurden.
    Unser Abendessen nahmen wir in einem kleinen Lokal nahe dem Zentrum des Ortes ein. Von dort aus hat man einen guten Blick auf die äußeren Mauern der Schlossruine, und während wir Brot und ein Eintopfgericht aßen, erklärte mir Georgescu, dass Targoviste ein äußerst geeigneter Ort sei, um von dort aus zu Draculas Burg in den Bergen zu gelangen. »Als er das zweite Mal den walachischen Thron bestieg, im Jahre 1456«, sagte er, »entschied er sich, eine Burg über dem Arges zu bauen, in die er sich bei Invasionen in die Ebene begeben konnte. Die Berge zwischen Targoviste und Transsilvanien – und die wilde Landschaft von Transsilvanien selbst – sind immer Rückzugsgebiete für die Walachen gewesen.«
    Er brach sich ein Stück Brot ab und wischte damit lächelnd die Soße von seinem Teller. »Dracula wusste, dass es über dem Fluss bereits einige verfallene Burgen gab, die aus dem elften Jahrhundert stammten. Er entschied sich, eine davon wieder aufzubauen, die alte Burg Arges. Er brauchte billige Arbeiter. Hängt am Ende nicht immer alles von guter Hilfe ab? Und so lud er in seiner gewohnt herzlichen Art all seine Bojaren – seine Großgrundbesitzer, wissen Sie – zu einer kleinen Osterfeier. In ihren Festgewändern kamen sie auf den großen Hof hier in Targoviste, und er servierte ihnen ein reichliches Mahl. Dann brachte er die ihm Missliebigen um und trieb den Rest der Edelmänner, mit Frauen und Kindern, fünfzig Kilometer weit in die Berge, damit sie ihm die Burg Arges wieder aufbauten.«
    Georgescu suchte auf dem Tisch herum, offenbar nach einem weiteren Stück Brot. »Nun, in Wirklichkeit ist es komplizierter, mit der rumänischen Geschichte ist es immer so. Draculas älterer Bruder Mircea war Jahre zuvor von ihren inneren Feinden in Targoviste ermordet worden. Als Vlad Dracula an die Macht kam, ließ er den Sarg seines Bruders ausgraben und fand heraus, dass der arme Mann lebendig begraben worden war. Daraufhin sandte er seine Ostereinladung aus, und das Ergebnis verschaffte ihm Rache für den grausamen Mord an seinem Bruder sowie billige Arbeitskräfte für den Burgbau in den Bergen. In unmittelbarer Nähe der alten Feste hatte er Ziegelöfen aufbauen lassen, und wer die Reise überlebte, wurde gezwungen, Tag und Nacht zu arbeiten, Ziegel zu brennen und Mauern und Türme zu bauen. In den alten Liedern dieser Gegend heißt es, dass den Bojaren die eleganten Kleider vom Leib fielen, bevor die Arbeit vollendet war.« Georgescu kratzte auf seinem Teller. »Mir ist aufgefallen, dass Dracula genauso oft praktisch dachte, wie er bösartig war.«
    Morgen, mein Freund, werden wir uns also auf die Spur jener unglücklichen Feudalherren machen, aber mit einem Fuhrwerk, während sie sich zu Fuß in die Berge schleppten.
    Es ist bemerkenswert, die Bauern hier in ihren Trachten zwischen den modern gekleideten Städtern herumlaufen zu sehen. Die Männer tragen weiße blusenartige Hemden, dunkle Westen und enorme Ledersandalen, deren Sohlen durch Riemen am Fuß befestigt sind, welche bis zum Knie hoch geschnürt werden, wie wiedergeborene römische Schäfer sehen sie damit aus. Die Frauen, die meist so dunkelhäutig sind wie die Männer und oft recht gut aussehen, tragen weite Röcke und Blusen mit fest zugeschnürter Weste, die Stoffe sind reichhaltigst bestickt. Es scheint ein lebhaftes Volk zu sein; beim Handeln auf dem Markt, wo ich am Morgen gleich nach unserer Ankunft war, wird viel gelacht und gerufen.
    Weniger als je gibt es hier eine Möglichkeit, meine Briefe an dich aufzugehen, deshalb bewahre ich sie vorerst sicher in meiner Tasche auf.
    Ganz der deine, Bartholomew
     
     
    Mein lieber Freund,
    zu meiner Freude ist es uns gelungen, bis zu einem Dorf am Arge vorzudringen. Es war eine Tagesreise durch mythisch steile Berge, auf dem Fuhrwerk eines Bauerns, dessen Hand ich gut mit Silber füllte. Das Ergebnis ist, dass mir heute alle Knochen schmerzen, aber ich fühle mich in Hochstimmung. Dieses Dorf ist ein Ort voller Wunder für mich, wie aus einem Grimmschen Märchen, nicht wie das wirkliche Leben, und ich wünschte, du könntest es wenigstens für eine Stunde sehen und die gewaltige Entfernung spüren, durch

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