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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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Sekundenschnelle, und ein Schauer des Schreckens durchfuhr mich, vom Kopf bis zu den Füßen. Gerade noch war ich tief in Gedanken gewesen und dabei, meinen Fuß auf das beleuchtete Pflaster zu setzen, und im nächsten Moment stand ich wie erstarrt da. Dabei realisierte ich zwei seltsame Dinge fast gleichzeitig. Das Erste war, dass ich dieses Licht nie zuvor hier auf dem Pflaster zwischen den alten gotischen Lehrgebäuden gesehen hatte, obwohl ich die Wege wohl schon tausendmal gegangen war. Ich hatte es nie zuvor gesehen, weil es nicht sichtbar gewesen war. Diesmal war es sichtbar gewesen, weil die Straßenbeleuchtung schon vorher ausgegangen war. Ich stand mutterseelenallein auf der Straße, und mein verklingender letzter Schritt war das einzige Geräusch, das zu hören war. Abgesehen von diesem verlöschten Licht aus dem Arbeitszimmer, in dem wir uns noch vor zehn Minuten unterhalten hatten, war es draußen stockdunkel.
    Das Zweite war – wenn es denn wirklich ein Nacheinander gab – eine Art Lähmung, die auf mich herabstieß. Ich sage »herabstieß«, weil es von außen über mich kam, nicht durch Nachdenken oder Instinkt. In dem Moment, als ich in seinen Schein trat, verlöschte das warme Licht aus den Fenstern meines Mentors. Vielleicht denkst du, das klingt doch ganz normal: Die Bürostunden sind zu Ende, und der letzte Professor, der das Haus verlässt, löscht sein Licht, worauf es auch auf der Straße dunkel wird, weil die Straßenbeleuchtung gerade ausgefallen ist. Aber so fühlte es sich absolut nicht an. Es war ganz und gar nicht so, als wäre ein normales Licht hinter einem Fenster ausgeschaltet worden. Es war mehr so, als raste etwas über die Fenster und verdunkelte jedwede Lichtquelle. Dann war es stockfinster auf der Straße.
    Einen Moment lang atmete ich nicht. Verschreckt und linkisch drehte ich mich um, sah die schwarzen Fensterlöcher, die über der dunklen Straße alles andere als unsichtbar waren, und rannte einem Impuls folgend zurück. Die Tür, durch die ich das Gebäude verlassen hatte, war fest verschlossen. Alle Fenster waren dunkel. Um diese Stunde ließ sich die Tür wahrscheinlich grundsätzlich nicht mehr von außen öffnen – das war sicher normal. Ich stand da, zögerte und war schon drauf und dran, zu den anderen Türen zu rennen, als die Straßenbeleuchtung wieder anging. Ich fühlte mich beschämt. Von den beiden Doktoranden, die hinter mir gewesen waren, war nichts zu sehen. Sie mussten in eine andere Richtung gegangen sein.
    Aber jetzt kam eine Gruppe Studenten vorbei, lachend; die Straße war nicht länger verlassen. Was, wenn Rossi gleich aus der Tür käme – was er sicher tun würde, nachdem er sein Licht gelöscht und sein Zimmer abgeschlossen hatte – und mich hier wartend vorfände? Er hatte gesagt, er wolle nicht weiterdiskutieren, worüber wir gesprochen hatten. Wie würde ich ihm meine irrationalen Ängste erklären können, hier vor der Tür, wo er doch einen Vorhang vor das Thema gezogen hatte – vor alle derart morbiden Themen vielleicht? Schnell drehte ich mich um, bevor er mich einholen konnte, und eilte beschämt nach Hause. Den Umschlag holte ich an diesem Abend nicht mehr aus meiner Tasche. Ich ließ ihn ungeöffnet und schlief tief und fest die Nacht durch.
    An den nächsten beiden Tagen gab es viel zu tun, und ich erlaubte mir nicht, Rossis Papiere anzusehen. Stattdessen verdrängte ich alles Esoterische strikt aus meinen Gedanken. Deshalb war ich überrascht, als mich ein Kommilitone aus meinem Fachbereich zwei Tage darauf spätnachmittags in der Bibliothek ansprach. »Hast du von Rossi gehört?«, fragte er und griff nach meinem Arm, als ich an ihm vorbeieilte. »Paolo, so warte doch!« – Ja, du rätst richtig, es war Massimo. Er war auch schon als Promovend groß und laut, vielleicht sogar lauter noch als heute. Ich fasste nach seinem Arm.
    »Rossi? Was? Was ist mit ihm?«
    »Er ist weg. Verschwunden. Die Polizei durchsucht gerade sein Büro.«
    Ich rannte den ganzen Weg. Das Gebäude sah wie immer aus, innen im Licht der Spätnachmittagssonne ein wenig dunstig und voller Studenten, die gerade ihre Seminarräume verließen. Im ersten Stock vor Rossis Büro stand ein Polizeibeamter und sprach mit dem Dekan und verschiedenen Männern, die ich nie zuvor gesehen hatte. Als ich dazukam, verließen zwei Männer in dunklen Jacketts das Arbeitszimmer des Professors, zogen die Tür fest hinter sich zu und gingen in Richtung Treppe und Seminarräume. Ich

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