Der Historiker
ich ziellos in den Wald hinaus. Ich wanderte umher, setzte mich hier und da im wechselnden zarten Grün des Morgens auf einen Stumpf oder Fels und sah ihr Gesicht zwischen den Bäumen oder im Licht selbst. Immer wieder fragte ich mich, ob ich das Dorf sofort verlassen sollte, da ich sie womöglich bereits beleidigt hatte.
Der ganze Tag verging auf diese Weise. Ich lief hierhin und dorthin und kehrte nur zum Mittagessen ins Dorf zurück, wo ich jede Sekunde fürchtete, sie zu treffen, und es doch auch hoffte. Aber sie war nirgends zu sehen, und am Abend ging ich mit dem Vorsatz zurück zu unserem Treffpunkt, ihr so gut es ging zu sagen, dass ich mich nur entschuldigen könne und sie nicht mehr belästigen würde. Als ich schon alle Hoffnung aufgeben wollte, dass sie noch käme, und dachte, ich müsse sie tatsächlich tief verletzt haben und am besten am nächsten Morgen abreisen, erschien sie zwischen den Bäumen – in ihren langen weiten Röcken und der schwarzen Weste, das Haar schwarz wie poliertes Holz, zu einem Zopf geflochten, der ihr vorn über die Schulter hing. In ihren dunklen Augen lag Furcht, aber die strahlende Intelligenz ihres Gesichts sprang mich förmlich an.
Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber da flog sie schon über die paar Meter, die uns noch trennten, und warf sich mir in die Arme. Zu meiner Überraschung schien sie sich mir ganz zu geben, und bald schon brachten uns unsere Gefühle so zart und rein zusammen, wie wir es beide sicher nicht vorhergesehen hatten. Wir konnten frei miteinander sprechen, wobei ich nicht sicher bin, in welcher unserer Sprachen, und ich sah die Welt und vielleicht auch meine eigene Zukunft in der Dunkelheit ihrer Augen mit den dichten Wimpern und der zarten asiatischen Falte am inneren Rand.
Als sie gegangen war und ich mit meinen zitternden Gefühlen allein blieb, versuchte ich zu überlegen, was ich getan hatte, was wir getan hatten, aber das Gefühl von Erfüllung und Glück stellten sich jedem Schluss in den Weg. Heute Abend werde ich wieder auf sie warten, denn ich kann nicht anders. Mein ganzes Sein scheint mit einem Mal eingebunden in ein anderes, das von meinem so völlig verschieden und ihm doch so wunderbar vertraut ist, dass ich kaum begreifen kann, was passiert ist.
Mein lieber Freund (wenn du es denn immer noch bist, an den ich schreibe),
seit vier Tagen lebe ich nun im Paradies, und meine Liebe für den Engel, der es beherrscht, scheint genau das zu sein: Liebe. Nie zuvor habe ich für eine Frau empfunden, was ich hier an diesem fremden Ort empfinde. Da mir nur mehr Tage bleiben, habe ich das alles natürlich aus jedem einzelnen Blickwinkel betrachtet. Der Gedanke, sie zu verlassen und nie wieder zu sehen, scheint mir so unmöglich, wie meine Heimat auf immer zu verlieren. Andererseits aber habe ich mich auch mit dem Gedanken abgemüht, was es bedeuten würde, sie mit mir zu nehmen; wie ich sie damit zunächst einmal ihrer Familie und Heimat entreißen würde und was es sonst an Folgen gäbe, käme sie mit mir nach Oxford. Letzteres ist so kompliziert wie nichts anderes, aber die Härte der Situation ist mir völlig klar: Wenn ich ohne sie abreiste, würde es uns beiden das Herz brechen, und es wäre gleichzeitig ein Akt der Feigheit und Niedertracht, nach dem, was ich von ihr angenommen habe.
Ich habe mich also entschlossen, sie so bald wie möglich zu meiner Frau zu machen. Unsere Leben werden ohne Zweifel einen merkwürdigen Weg gehen, aber ich bin sicher, dass ihre natürliche Anmut und Geistesschärfe sie werden durchstehen lassen, was immer uns begegnen wird. Ich kann sie hier nicht zurücklassen und mich mein ganzes Leben lang fragen, was hätte sein können, genauso wenig wie ich sie in dieser Situation allein lassen kann. So habe ich mich entschlossen, sie heute Abend zu bitten, mich in einem Monat zu heiraten. Ich denke, ich werde erst nach Griechenland zurückkehren, wo ich mir von meinen Kollegen genug Geld leihen oder aus England schicken lassen kann, um ihrem Vater etwas dafür zu geben, dass ich sie mit mir nehme. Im Moment habe ich nicht mehr viel bei mir und traue mir meinen Schritt auch nicht recht zu. Zudem fühle ich mich verpflichtet, an der Ausgrabung teilzunehmen, zu der man mich eingeladen hat, dem Grab eines Edelmannes bei Knossos. Meine zukünftige Arbeit mag mit diesen Kollegen verbunden sein, und mit dieser Arbeit werde ich meine Frau und mich in dem Leben unterhalten müssen, das wir uns zusammen
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