Der Historiker
dolmetschend führte sie uns in den Speisesaal mit seiner strahlend weißen Tischwäsche und dem hässlichen Porzellan. Tante Éva bestellte wie schon beim letzten Mal für uns alle, und ich lehnte mich müde zurück, während die beiden sich unterhielten. Zunächst schienen sie liebevolle Scherze auszutauschen, aber bald schon umwölkte sich Évas Gesicht, und ich sah, wie sie ihre Gabel nahm und nachdenklich zwischen Daumen und Zeigefinger drehte. Dann flüsterte sie Helen etwas zu, das auch diese düster zu stimmen schien.
›Ist etwas nicht in Ordnung?‹, fragte ich. Ich hatte längst genug von Geheimnissen und Rätseln.
›Meine Tante hat eine Entdeckung gemacht‹, Helen senkte die Stimme, obwohl sicher nur wenige der um uns herum Speisenden Englisch verstehen würden. ›Etwas, das unangenehm für uns sein könnte.‹
›Was?‹
Èva nickte, sprach wieder sehr leise, und Helens Stirn zog sich in tiefe Falten. ›Das ist übel‹, sagte sie flüsternd. ›Meine Tante ist wegen dir befragt worden – unseretwegen. Sie sagt, sie hatte heute Nachmittag Besuch von einem Polizeioffizier, den sie seit langer Zeit kennt. Er entschuldigte sich und sagte, es sei reine Routine, aber dann fragte er sie nach deiner Anwesenheit hier in Ungarn, deinen Interessen und unserem… unserem Verhältnis. Meine Tante ist in diesen Dingen sehr geschickt, und als sie ihn ihrerseits befragte, brachte sie aus ihm heraus, dass er von Géza Jozsef – wie nennt man das? – auf die Sache angesetzt worden war.‹ Ihre Stimme war ein kaum mehr hörbares Murmeln.
›Geza!‹ Ich starrte sie an.
›Ich sagte dir doch, dass er eine Plage ist. Auch mich hat er auf dem Kongress auszufragen versucht, aber ich habe ihn ignoriert. Das hat ihn offenbar mehr verärgert, als ich dachte.‹ Sie hielt kurz inne. ›Meine Tante sagt, er ist bei der Geheimpolizei und kann uns ziemlich gefährlich werden. Dort mag man den liberalen Kurs der Regierung nicht und versucht, die alten Strukturen zu erhalten.‹
Etwas in ihrem Ton ließ mich fragen: ›Wusstest du davon? Ich meine, was für eine Position er hat?‹
Sie nickte schuldbewusst. ›Ich erzähle dir später davon.‹
Ich war mir nicht sicher, wie viel ich wirklich erfahren wollte, aber der Gedanke, von diesem gut aussehenden Riesen verfolgt zu werden, war mir absolut widerwärtig. ›Was will er?‹
›Er hat offenbar das Gefühl, dass du nicht nur aus historischem Interesse hier bist. Er glaubt, dass du noch nach etwas anderem suchst.‹
›Da hat er Recht‹, sagte ich mit leiser Stimme.
›Er ist entschlossen herauszufinden, um was es dir geht. Ich bin sicher, er weiß, wo wir heute waren, und hoffe nur, dass er nicht auch noch meine Mutter verhört. Meine Tante hat ihn, so gut es geht, von… von seiner Witterung abgebracht, aber jetzt macht sie sich Sorgen.‹
›Weiß deine Tante, wonach… nach wem ich suche?‹
Helen schwieg eine Weile, und als sie aufblickte, lag so etwas wie eine Bitte in ihren Augen.
›Ja, ich dachte, sie könnte uns vielleicht helfen.‹
›Hat sie einen Rat für uns?‹
›Sie sagt nur, es sei gut, dass wir Ungarn morgen wieder verlassen. Sie warnt uns davor, mit irgendwelchen Fremden zu sprechen, bevor wir abreisen.‹
›Natürlich‹, sagte ich. ›Vielleicht würde ja Jozsef gern mit uns auf dem Flughafen die Dracula-Dokumente durchgehen.‹
›Bitte.‹ Ihre Stimme war kaum mehr ein Flüstern. ›Mach keine Witze darüber, Paul. Das kann sehr ernst sein. Wenn ich je zurückkommen will…‹
Ich schwieg beschämt. Ich hatte nicht wirklich einen Witz machen wollen, es war mehr ein Ausdruck von Erbitterung gewesen. Nach dem Essen brachte der Kellner Kaffee und Gebäck, das Tante Éva uns mit mütterlicher Sorge aufdrängte, als könnte uns ein wenig mehr Fett vor den Übeln der Welt schützen. Während wir aßen, erzählte ihr Helen von Rossis Briefen, und Éva nickte bedächtig und aufmerksam, sagte aber nichts. Als wir unseren Kaffee getrunken hatten, wandte sie sich direkt an mich, und Helen übersetzte mit niedergeschlagenen Augen.
›Mein lieber junger Mann‹, sagte sie und drückte meine Hand so, wie es auch ihre Schwester an diesem Tag bereits getan hatte. ›Ich weiß nicht, ob wir uns je wieder sehen werden, aber ich hoffe, dass wir es tun. Bis dahin kümmern Sie sich bitte um meine geliebte Nichte, oder erlauben Sie ihr, dass sie sich um Sie kümmert‹ – sie warf Helen einen verschmitzten Blick zu, den diese jedoch nicht erwiderte
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