Der Historiker
Kapelle zu erkennen, deutlich und tief Komisch war, dass die Spur von der Kapelle wegführte, gleichsam direkt aus dem eingesunkenen Boden der Krypta in den Wald. Spuren zur Burgkapelle, wie der Wolf hergelangt war, gab es keine, aber vielleicht war ich als Spurenleser einfach nicht gut genug, um zu sehen, wo er hinter der Kapelle durchs Unterholz gekommen war. Ich grübelte noch darüber nach, lange nachdem wir gefrühstückt, ein paar weitere Skizzen angefertigt und uns auf den Rückweg gemacht hatten.
Muss jetzt wieder abbrechen, aber die wärmsten Grüße aus einem fernen Land an dich…
Rossi
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Mein lieber Freund,
ich kann mir kaum vorstellen, was du von dieser merkwürdigen, einseitigen Korrespondenz denken wirst, wenn sie dich am Ende erreicht, aber ich verspüre den Zwang damit fortzufahren, und wenn es nur ist, um später selbst alles nachlesen zu können. Gestern Nachmittag sind wir zurück in das Dorf am Arges gekommen, von wo aus wir die Reise zu Draculas Burg unternommen haben. Georgescu ist wieder zurück nach Snagov. Zum Abschied hat er mich noch einmal herzlich umarmt, mir die Schultern gedrückt und dem Wunsch Ausdruck gegeben, dass wir uns eines Tages Wiedersehen. Er war ein großartiger Reiseführer, und ich werde ihn sicher vermissen. Im letzten Moment noch bekam ich ein schlechtes Gewissen, weil ich ihm nicht alles erzählt hatte, was mir in Istanbul widerfahren ist, dennoch konnte ich mich nicht überwinden, mich zu offenbaren. Er hätte mir sowieso nicht geglaubt, und somit hätte ich ihn durch meinen Versuch, ihn zu überzeugen, vor keinem möglichen Unglück bewahren können. Ich kann mir nur zu gut vorstellen, wie er, ganz Wissenschaftler, herzlich gelacht, den Kopf geschüttelt und meinen Bericht als blühende Fantasie abgetan hätte.
Er drängte mich, ihn bis nach Targoviste zu begleiten, aber ich hatte mich bereits entschlossen, noch ein paar Tage hier zu bleiben, einige der örtlichen Kirchen und Klöster zu besuchen und so die Gegend etwas besser kennen zu lernen, in der Vlad sein Bollwerk hatte. Das war der Grund, den ich nicht nur Georgescu, sondern auch mir gab, und er empfahl mir verschiedene Orte, die Dracula zu Lebzeiten sicher ebenfalls besucht habe. Tatsächlich, mein Freund, glaube ich, dass ich noch ein weiteres Motiv habe zu bleiben: Mich hält auch das Gefühl hier, dass ich womöglich nie wieder an einen so abgeschiedenen Ort kommen werde, so weit ab von meinen üblichen Forschungsreisen und so eindringlich schön. Nachdem ich die Entscheidung getroffen hatte, meine letzten freien Tage hier zu verbringen, statt schon vor der Zeit zurück nach Griechenland zu eilen, konnte ich mich ein wenig in dem kleinen Gasthaus ausruhen, etwas an meinem Rumänisch arbeiten und ohne großen Erfolg mit den Alten des Dorfes über die örtlichen Legenden sprechen.
Heute bin ich durch die Wälder hinter dem Dorf gewandert und unverhofft auf ein religiöses Wahrzeichen in Form eines kleinen Heiligenhäuschens gestoßen. Die Mauern sind aus alten Steinen, das Dach aus Stroh, und ich glaube, das kleine Heiligtum stand schon hier, lange bevor Draculas Truppen auf dieser Straße ritten. Die Blumen in der Nische waren verwelkt, und unter dem Kreuz hatte Kerzenwachs einen kleinen See gebildet.
Als ich zurück ins Dorf ging, begegnete mir noch etwas ähnlich Staunenswertes. Ein junges Mädchen aus dem Dorf stand in ihrer Tracht wie angewurzelt auf meinem Weg und wirkte auf mich wie eine Gestalt aus anderen, früheren Zeiten. Sie machte keine Anstalten, zur Seite zu treten, und ich blieb stehen, um mit ihr zu sprechen, worauf sie mir zu meinem großen Erstaunen eine Münze reichte. Die Münze war eindeutig sehr alt, aus dem Mittelalter, und auf eine Seite war ein Drache geprägt. Ich war mir gleich sicher, obwohl ich keinen Beweis dafür hatte, dass es eine Münze des Drachenordens war. Das Mädchen sprach natürlich nur Rumänisch, aber ich brachte dennoch in Erfahrung, dass sie die Münze von einer alten Frau hatte, die irgendwann stromabwärts von den Felsen bei Vlads Burg ins Dorf gekommen war. Das Mädchen sagte mir auch, dass ihr Familienname Getzi sei, ohne dass sie eine Ahnung zu haben schien, was das bedeutet. Du kannst dir vorstellen, wie aufgeregt ich war: Aller Wahrscheinlichkeit nach stand ich Angesicht zu Angesicht einer Nachfahrin.
Vlad Draculas gegenüber. Der Gedanke war so atemberaubend wie entnervend (obwohl die Reinheit des Gesichts und die Anmut des
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