Der Historiker
war eines der kleinen Kruzifixe, die wir aus Saint Mary’s mitgenommen hatten. Ich band es ihr um den Hals, so dass es versteckt unter dem Tuch hing. Sie schien erleichtert zu seufzen, als sie es mit dem Finger berührte.
›Ich bin nicht gläubig, weißt du, und ich fühlte mich zu sehr als Wissenschaftlerin, um…‹
›Ich weiß. Aber was war das damals in Saint Mary’s?‹
›Saint Mary’s?‹ Sie runzelte die Stirn.
›Zu Hause. In Amerika. Als du in die Kirche kamst, um Rossis Briefe mit mir zu lesen, hast du dich mit Weihwasser bekreuzigt.‹
Sie überlegte kurz. ›Ja, das habe ich. Aber nicht, weil ich gläubig bin. Das war Heimweh.‹
Wir gingen langsam über die Brücke zurück und durch die schwach beleuchteten Straßen, ohne uns zu berühren. Ihre Arme um meinen Körper spürte ich immer noch.
›Lass mich mit in dein Zimmer kommen‹, flüsterte ich ihr zu, als das Hotel in Sicht kam.
›Nicht hier.‹ Ich hatte den Eindruck, dass ihre Lippen zitterten. ›Man beobachtet uns.‹
Ich wiederholte meine Bitte nicht noch einmal und war froh über die Ablenkung, die an der Rezeption des Hotels auf uns wartete. Als ich nach meinem Schlüssel fragte, übergab ihn mir der Mann vom Empfang zusammen mit einer Notiz, die jemand auf Deutsch verfasst hatte: Turgut hatte angerufen und bat um Rückruf. Helen wartete, während ich das Ritual durchspielte, um das Telefon zu bitten und dem Angestellten eine kleine Hilfestellung bei seiner Entscheidung zu geben. In den letzten Tagen hier hatte ich meine Haltung den Umständen angepasst. Wieder und wieder wählte ich, bis es in der Ferne zu läuten begann. Turgut antwortete mit einem Poltern und wechselte dann schnell ins Englische. ›Paul, mein Guter! Dank den Göttern, dass Sie anrufen. Ich habe Neuigkeiten für Sie, wichtige Neuigkeiten!‹
Das Herz machte vor Freude einen Satz. ›Haben Sie… eine Karte gefunden? Das Grab? Rossi?‹
›Nein, mein Freund, nichts so Wunderbares. Aber der Brief, den Selim gefunden hat, ist übersetzt, und es ist ein erstaunliches Schriftstück. Es wurde von einem Mönch orthodoxen Glaubens verfasst, in Istanbul, im Jahre 1477. Können Sie mich verstehen?‹
›Ja! Ja!‹, rief ich so laut, dass der Mann vom Empfang mich ansah und auch Helen mir einen ängstlichen Blick zuwarf. ›Reden Sie weiter!‹
›Im Jahre 1477. Und es gibt noch weit mehr. Ich denke, es ist wichtig für Sie, der Information des Briefes zu folgen. Ich werde ihn Ihnen zeigen, wenn Sie morgen zurückkommen. Ja?‹
›Ja!‹, rief ich. ›Aber sagt der Brief aus, dass sie… ihn… in Istanbul begraben haben?‹ Helen schüttelte den Kopf, und ich konnte ihre Gedanken lesen: Die Telefonleitung konnte abgehört werden.
›Aus dem Brief ist das nicht erkenntlich‹, rumpelte Turgut. ›Ich bin immer noch nicht sicher, wo er begraben liegt, aber es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass das Grab hier ist. Ich denke, Sie müssen sich auf eine weitere Reise vorbereiten. Und Sie werden wohl auch wieder Beistand von der wackeren Tante brauchen.‹ Trotz des Rauschens in der Leitung konnte ich einen grimmigen Unterton in seiner Stimme ausmachen.
›Eine neue Reise? Aber wohin?‹
›Nach Bulgarien‹, rief Turgut aus der Ferne. Ich starrte zu Helen hinüber, und der Hörer rutschte mir aus der Hand. ›Bulgarien?‹«
Teil drei
Doch stieß ich noch auf ein besonders großes Grab, das weit prächtiger war als die übrigen und vor allem durch seine Ausmaße auffiel. Ein einziges Wort stand darauf: DRACULA.
Bram Stoker, Dracula, 1897
49
Vor ein paar Jahren fand ich unter den Papieren meines Vaters eine Notiz, die in dieser Geschichte keinen Platz haben würde, wenn sie nicht das einzige Andenken an seine Liebe zu Helen wäre, das ich je in Händen gehalten habe, abgesehen von seinen Briefen an mich. Er führte kein Tagebuch, und die gelegentlichen Notizen, die er für sich selbst verfasste, beschäftigen sich fast ausschließlich mit seiner Arbeit. Es sind Gedanken zu diplomatischen Problemen oder zur Geschichte, besonders soweit sie internationale Konflikte betrifft. Diese Überlegungen und die Vorträge und Aufsätze, die aus ihnen entstanden, stehen heute in der Bibliothek seiner Stiftung, und mir ist am Ende ein einziges Schriftstück geblieben, das mein Vater allein für sich – und für Helen – angefertigt hat. Ich weiß, dass mein Vater ein Mann der Tatsachen und Ideale war, aber nicht der Poesie,
Weitere Kostenlose Bücher