Der Historiker
Selim. Er bewahrt sie auch heute noch, an einem geheimen Ort unserer Tradition.‹ Turgut holte tief Luft und nahm dankbar einen Schluck aus seiner Tasse.
›Ich dachte‹, sagte Helen etwas argwöhnisch, ›Sie hätten gesagt, Ihr Vater sei Italiener. Wie konnte er dann Mitglied der Garde werden?‹
›Ja, Madam.‹ Turgut nickte über seiner Tasse. ›Mein Großvater mütterlicherseits war ein sehr aktives Mitglied der Garde, und er konnte es nicht ertragen, dass seine Linie mit ihm aussterben sollte, aber er hatte nur eine Tochter. Als er sah, dass das Reich zu seinen Lebzeiten auf ewig enden sollte – ‹
›Ihre Mutter!‹, rief Helen.
›Ja, meine Liebe.‹ Turguts Lächeln war voller Wehmut. ›Sie sind nicht die Einzige hier, die eine bemerkenswerte Mutter ihr Eigen nennen kann. Wie ich glaube, habe ich Ihnen bereits berichtet, dass sie eine der gebildetsten Frauen ihrer Zeit in unserem Land war, eine von den wenigen wirklich hervorragend ausgebildeten Frauen, um die Wahrheit zu sagen. Mein Großvater unterließ nichts, was dazu diente, all sein Wissen und seine Leidenschaft auf sie zu übertragen und sie so auf den Dienst in der Garde vorzubereiten. Sie begann sich für die Ingenieurswissenschaften zu interessieren, als das hier noch eine ganz neue Disziplin war, und nach ihrer Einweihung in die Garde erlaubte er ihr, in Rom zu studieren. Er hatte dort Freunde. Sie beherrschte die höhere Mathematik und verstand vier Sprachen, darunter Griechisch und Arabisch.‹ Er sagte etwas auf Türkisch zu seiner Frau und Selim, und beide strahlten zustimmend. ›Sie konnte reiten wie die Reiter der Sultane und, was nur sehr wenige Leute wussten, auch so gut schießen.‹ Es war fast ein Zwinkern, das er Helen zuwarf, und ich musste an ihre kleine Pistole denken. Wo hatte sie die überhaupt? ›Sie lernte eine Menge von meinem Großvater über die Legenden um den Vampir und wie sich die Lebenden vor seinen bösen Machenschaften schützen lassen. Da drüben ist ihr Bild, wenn Sie es sich anschauen möchten.‹
Er stand auf, brachte es von einem kleinen, mit Schnitzereien verzierten Tischchen in der Ecke herüber und legte es sehr sanft in Helens Hand. Es war ein bemerkenswertes Bild, von jener wunderbar zarten Klarheit fotografischer Porträts aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert. Die Dame, die da in einem Istanbuler Studio posierte, wirkte geduldig und gefasst, und doch hatte der Fotograf unter seinem großen schwarzen Tuch so etwas wie ein Amüsement in ihren Augen eingefangen. Die sepiafarbene Haut über dem schwarzen Kleid wirkte makellos. Ihr Gesicht glich dem von Turgut – Kinn und Nase waren jedoch zart – und öffnete sich wie eine frische Blüte auf dem schlanken Stängel ihres Halses. Es war das Gesicht einer osmanischen Prinzessin. Ihr dunkles Haar bauschte sich wie Wolken unter dem kunstvoll mit Federn geschmückten Hut. Ihr Blick traf meinen mit dem humorvollen Funkeln, das der Fotograf eingefangen hatte, und unwillkürlich bedauerte ich die Jahre, die zwischen uns lagen.
Turgut nahm den kleinen Rahmen voller Zuneigung wieder an sich. ›Mein Großvater handelte weise, als er mit der Tradition brach und sie zu einem Mitglied der Garde machte. Sie war es, die einige verloren geglaubte Dokumente in anderen Bibliotheken fand und sie zurück in die Sammlung brachte. Als ich fünf war, tötete sie einen Wolf, der um unser Sommerhaus strich, und als ich elf war, brachte sie mir das Reiten und Schießen bei. Mein Vater war ihr treu ergeben, auch wenn sie ihn mit ihrer Furchtlosigkeit ängstigte. Er sagte immer, er sei ihr aus Rom in die Türkei gefolgt, um ihr den zu großen Wagemut auszureden. Wie die vertrauenswürdigsten Ehefrauen unserer Gardemitglieder wusste mein Vater auch um ihre Mitgliedschaft und sorgte sich ständig um ihre Sicherheit. Sein Bild hängt dort drüben…‹ Damit deutete er auf ein Ölporträt neben dem Fenster, das mir schon aufgefallen war. Es zeigte einen stämmigen, gutmütigen, fast drolligen Mann in einem dunklen Anzug, mit schwarzen Augen und Haaren und einem sanften Gesichtsausdruck. Turgut hatte uns erzählt, sein Vater sei Historiker gewesen, mit dem Spezialgebiet italienische Renaissance, und doch konnte ich mir gut vorstellen, wie er mit seinem jungen Sohn Murmeln spielte, während seine Frau sich um die ernsthaftere Seite der Erziehung kümmerte.
Helen bewegte sich neben mir und streckte diskret die Beine. ›Sie sagten, Ihr Großvater war ein aktives Mitglied der
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