Der Historiker
warf einen Blick zu Selim hinüber, der uns geduldig zuhörte und offenbar versuchte, der Unterhaltung zu folgen. Seine grünen Augen waren ruhig wie ein Teich. ›Wir glauben, dass niemand je von uns gehört hat, bis auf unsere Mitglieder. Wir wurden als geheime Garde aus den Elitetruppen der Janitscharen gebildet.‹
Ich sah plötzlich die steinernen helläugigen jungen Gesichter wieder vor mir, die ich auf den Gemälden im Topkapi-Sarayi gesehen hatte, ihre geschlossenen Reihen in unmittelbarer Nähe vom Thron des Sultans, nahe genug, um sich einem möglichen Attentäter entgegenzuwerfen; oder auf jeden, der, auch das reichte aus, plötzlich die Gunst des Sultans verlor.
Turgut schien meine Gedanken zu lesen, denn er nickte. ›Wie ich sehe, haben Sie von den Janitscharen gehört. Nun, werte Kollegen, im Jahre 1477 rief Mehmed der Herrliche und Glorreiche zwanzig der vertrauenswürdigsten und besten Offiziere aus seinem Janitscharenkorps zu sich und verlieh ihnen unter größter Geheimhaltung das neue Zeichen der Halbmond-Garde. Diese Männer hatten ein einziges Ziel zu verfolgen – unter Hingabe des eigenen Lebens, wenn nötig. Sie hatten den Drachenorden daran zu hindern, weitere Qualen über unser großes Reich zu bringen, und seine Mitglieder zu jagen und zu töten, wo immer sie sich befanden.‹
Helen und ich holten beide tief Luft, aber diesmal war ich schneller. ›Die Halbmond-Garde wurde 1477 gegründet… Das ist das Jahr, in dem die Mönche nach Istanbul kamen!‹ Ich versuchte, das Rätsel beim Sprechen zu lösen. ›Aber der Drachenorden war lange davor gegründet worden – von Kaiser Sigismund im Jahre 1400, oder?‹ Helen nickte zustimmend.
›1408, um genau zu sein, mein Freund. Natürlich. Bis 1477 hatten die Sultane schon einige Schwierigkeiten mit dem Orden und seinen Angriffen auf das Reich gehabt. Aber im Jahre 1477 dann entschied Seine Herrlichkeit die Zuflucht der Welt, das noch schlimmere Angriffe des Drachenordens zu erwarten sein könnten.‹
›Was meinen Sie?‹ Helens Hand lag bewegungslos und kalt in meiner.
›Selbst unsere Statuten sprechen nicht direkt davon‹, gab Turgut zu, ›aber ich bin sicher, dass es kein reiner Zufall war, dass der Sultan unsere Garde nur Monate nach dem Tod von Vlad Tepes gründete.‹ Er legte seine Hände wie zum Gebet zusammen, obwohl, wie ich mich erinnerte, seine Vorfahren auf dem Boden ausgestreckt und mit dem Gesicht nach unten gebetet haben mussten. ›Unsere Statuten besagen, dass Seine Herrlichkeit die Halbmond-Garde gründete, um den Drachenorden zu verfolgen, die meist verachteten Gegner seines erhabenen Reiches, durch alle Zeiten und über alle Grenzen hinweg, zu Lande und zur See und selbst noch im Tode.‹
Turgut lehnte sich vor, seine Augen glühten, und seine silberne Mähne stellte sich auf. ›Ich habe die Theorie, dass der Glorreiche spürte, oder es sogar wusste, welche Gefahr Vlad Dracula für das Reich bedeuten könnte, selbst noch nach seinem, Draculas, Tod.‹ Er strich sich das Haar zurück. ›Wie wir gesehen haben, hat der Sultan in dieser Zeit auch seine Sammlung mit Schriften zum Drachenorden begonnen – das Archiv war kein Geheimnis, aber es wurde fortan im Geheimen von unseren Mitgliedern genutzt, und wird es noch immer. Und jetzt sind dieser fabelhafte Brief, den Selim gefunden hat, und Ihr Volkslied, Madam… weitere Beweise dafür, dass der Glorreiche guten Grund hatte, sich Sorgen zu machen.‹
Mein Kopf war immer noch übervoll mit Fragen. ›Aber wie sind Sie und Mr Aksoy zu Mitgliedern dieser Garde geworden?‹
›Die Mitgliedschaft geht vom Vater auf den ältesten Sohn über. Jeder von uns erhält seine – wie sagt man bei Ihnen? – Einweihung im Alter von neunzehn Jahren. Wenn ein Vater nur unwürdige Söhne oder gar keine hat, nimmt er das Geheimnis mit ins Grab.‹ Turgut fand endlich seine verlassene Kaffeetasse wieder, und Mrs Bora füllte sie ihm. ›Die Halbmond-Garde war ein bestens gehütetes Geheimnis, selbst die anderen Janitscharen wussten nicht, dass einige der Männer aus ihren Reihen dazu gehörten. Unser geliebter Fatih starb 1481, aber seine Garde blieb bestehen. Die Janitscharen erlangten bisweilen große Macht unter den schwächeren Sultanen, aber wir bewahrten unser Geheimnis. Als das Reich selbst schließlich zusammenbrach, wusste niemand von uns, doch wir blieben. Im Ersten Weltkrieg wurden unsere Statuten von Selim Aksoys Vater in sicherer Verwahrung gehalten, im Zweiten dann von
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