Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
Vom Netzwerk:
wandte sich uns zu, gelassen, ruhig, in sich gekehrt, so dass ich schon glaubte, er blickte auf den Boden, obwohl er uns doch direkt ansah. Ich trat vor und bot ihm meine Hand. Er schüttelte sie ernst, wandte sich Helen zu und schüttelte auch ihre. Er war höflich, förmlich und besaß jene Art von Ehrerbietung, die nicht wirklich Ehrerbietung, sondern Würde ist, und seine großen dunklen Augen wanderten zwischen uns hin und her und richteten sich dann auf Ranov, der hinter uns geblieben war und die Begrüßungsszene aus der Distanz betrachtete. Da trat auch Ranov vor und gab ihm die Hand – herablassend, dachte ich und mochte ihn mit jeder Minute weniger. Ich wünschte von ganzem Herzen, dass er gehen würde, damit wir allein mit Professor Stoichev reden konnten. Wie sollten wir nur irgendeine Art ernsthafter Diskussion führen und von Stoichev etwas in Erfahrung bringen, solange Ranov wie eine Fliege um uns herumsurrte?
    Professor Stoichev drehte sich langsam um und bat uns herein. Dieser Raum war, wie sich herausstellte, einer von mehreren im Obergeschoss. Während unserer zwei Besuche dort wurde mir jedoch nicht klar, wo die Bewohner dieses Hauses schliefen. Soweit ich erkennen konnte, bestand die Etage nur aus diesem langen schmalen Wohnzimmer, in das wir nun traten, und mehreren kleineren Räumen, die davon abgingen. Die Türen zu ihnen standen offen und ließen Sonnenlicht herein, Sonnenlicht, das durch das Grün der Bäume vor den Fenstern gefiltert wurde und die Einbände unzähliger Bücher liebkoste. Das Zimmer war voller Bücher: Die Wände waren voll mit ihnen, sie stapelten sich in hölzernen Kisten auf dem Boden und zuhauf auf den Tischen.
    Dazwischen lagen einzelne Schriftstücke aller Größen und Formen, viele davon waren eindeutig sehr alt. Nein, das war nicht Rossis ordentliches Arbeitszimmer, sondern ein ziemlich unaufgeräumtes, überladenes Laboratorium, das obere Stockwerk eines Sammlerhirns. Überall sah ich Sonnenlicht auf altes Pergament fallen, altes Leder, geprägte Einbände, abgegriffenes Gold, bröckelndes Papier, knubbelige Buchrücken – rote, braune, knochenfarbene, wunderbare Bücher –, Bücher und Schriftrollen und Manuskripte in einem wilden Arbeitsdurcheinander. Nichts war staubig, nichts Schweres lag auf Zerbrechlichem, und doch waren diese Bücher, diese Manuskripte einfach überall. Ich hatte das Gefühl, so von ihnen umgeben zu sein, wie man es nicht einmal in einem Museum ist, wo solch wertvolle Objekte sparsamer und methodischer ausgestellt worden wären.
    An einer Wand des Raumes hing eine einfache Karte, die zu meinem Erstaunen auf Leder gemalt war. Ich konnte nicht anders, als nahe an sie heranzutreten, und Stoichev lächelte. ›Mögen Sie die Karte?‹, fragte er. ›Das ist das Byzantinische Reich ungefähr um 1150.‹ Es war das erste Mal, dass er sprach, und er benutzte ein ruhiges, korrektes Englisch.
    ›Als Bulgarien noch dazugehörte‹, sagte Helen.
    Stoichev sah sie eindeutig erfreut an. ›Ja, genau. Ich glaube, diese Karte stammt aus Venedig oder Genua und gelangte dann nach Konstantinopel, vielleicht als Geschenk für den Kaiser oder jemanden an seinem Hof. Das hier ist eine Kopie, die ein Freund von mir angefertigt hat.‹
    Helen lächelte und fasste sich nachdenklich ans Kinn. Dann zwinkerte sie ihm fast zu. ›Manuel I. Komnenos vielleicht?‹
    Ich war verblüfft, und auch Stoichev wirkte erstaunt. Helen lachte. ›Byzanz war einmal eine Art Hobby von mir‹, sagte sie. Der alte Historiker strahlte und verbeugte sich höflich vor ihr. Er machte eine Geste zu den Stühlen um den Tisch herum, der in der Mitte des Raumes stand, und wir setzten uns. Von meinem Platz aus konnte ich den Garten hinter dem Haus sehen, der sanft bis zu einem Wald abfiel und in dem einige Obstbäume bereits kleine grüne Früchte trugen. Die Fenster waren geöffnet, und das Rauschen der Blätter und das Summen der Bienen drang zu uns herein. Ich überlegte, wie wohltuend es für Stoichev sein musste, selbst in der Verbannung, hier zwischen seinen Manuskripten sitzen zu können, zu lesen oder zu schreiben und diese Laute zu hören, die sich von keinem noch so eisern durchgreifenden Staat unterdrücken ließen und die ihm noch kein Bürokrat hatte wegnehmen wollen. Es war ein glücklicher Hausarrest, soweit das möglich war, und vielleicht etwas freiwilliger, als es sich von uns feststellen ließ.
    Stoichev sagte eine Weile nichts mehr, obwohl er uns genau betrachtete. Ich

Weitere Kostenlose Bücher