Der Historiker
hatte, aber sie strahlte eine Energie und Kraft aus, die mich denken ließen, dass sie die Schöpferin dieses prächtigen kleinen Gartens war und auch verantwortlich für die guten Gerüche aus der Küche. Ihr Haar war aus dem runden Gesicht gekämmt, und sie hatte ein dunkles Pigmentmal auf der Stirn. Augen, Mund und Kinn sahen aus wie die eines hübschen Kindes. Sie trug eine Schürze über einer weißen Bluse und einem blauen Rock und musterte uns mit einem scharfen Blick, der nichts mit der Unschuld ihrer Augen zu tun hatte. Unter ihren schnellen Fragen sah ich Ranov sogar seine Brieftasche öffnen und ihr eine Karte daraus zeigen. Ob sie nun Stoichevs Tochter oder seine Haushälterin war – hatten pensionierte Professoren in kommunistischen Ländern Haushälterinnen? –, sie war sicher keine Närrin. Ranov schien sich völlig untypisch für ihn um etwas Liebenswürdigkeit zu bemühen. Lächelnd wandte er sich jetzt uns zu, um uns ihr vorzustellen. ›Das ist Irina Hristova‹, erklärte er, als wir uns die Hände schüttelten. ›Sie ist die Nächte von Professor Stoichev.‹
›Die Nächte?‹, fragte ich und schaltete nicht gleich.
›Die Tochter seiner Schwester‹, sagte Ranov. Er nahm sich eine weitere Zigarette und bot auch Irina Hristova eine an, die mit einem entschiedenen Nicken ablehnte. Als er ihr erklärte, dass wir aus Amerika kämen, weiteten sich ihre Augen, und sie betrachtete uns äußerst vorsichtig. Dann lachte sie, wobei ich nie erfuhr, warum. Ranov sah längst wieder düster drein. Ich glaube nicht, dass er länger als ein paar Minuten freundlich aussehen konnte, und sie drehte sich um und ließ uns herein.
Wieder überraschte mich dieses Haus. Von außen mochte es wie ein hübsches altes Bauernhaus wirken, drinnen entpuppte es sich in einem Dämmerlicht, das im völligen Gegensatz zu draußen stand, als ein Museum. Die Tür öffnete sich direkt in einen großen Raum mit einem Kamin, in dem jedoch Sonnenlicht lag und kein Feuer brannte. Das Mobiliar – dunkle, fein mit Schnitzwerk verzierte Kommoden mit Spiegel, herrschaftliche Stühle und Bänke – wäre für sich schon alle Aufmerksamkeit wert gewesen, aber was meinen Blick weit mehr noch anzog und Helen ein Murmeln der Bewunderung entlockte, war die erlesene Mischung aus folkloristischen Stoffen und primitiver Malerei, hauptsächlich Ikonen von einer Qualität, die weit über das hinausging, was wir in den Kirchen Sofias gesehen hatten. Ich sah Madonnen mit strahlenden Augen, dünnlippige, traurige Heilige, groß und klein, auf goldenem Grund oder verkleidet mit gehämmertem Silber, in Booten stehende Apostel und Märtyrer, die geduldig ihr Schicksal ertrugen. Die satten, rauchgetönten alten Farben wiederholten sich in den geometrischen Mustern der gewebten Wolldecken und Schürzen und sogar einer bestickten Weste und ein paar Tüchern, die mit winzigen Münzen besetzt waren. Helen deutete auf die Weste mit den beidseitig aufgesetzten kleinen Taschen. ›Für Kugeln‹, sagte sie einfach.
Neben der Weste hingen zwei Dolche. Ich wollte fragen, wer die Weste getragen, auf wen die Kugeln abgefeuert wurden und wer diese Dolche getragen hatte. Jemand hatte die Keramikvase auf dem Tisch davor mit Rosen und grünem Farn gefüllt, die inmitten all dieser verblassenden Schätze übernatürlich lebendig wirkten. Der Boden war auf Hochglanz poliert. Weiter hinten entdeckte ich einen ähnlichen Raum.
Ranov sah sich um und schnaufte. ›Meiner Meinung nach werden Professor Stoichev zu viele nationale Besitztümer zugestanden. Das alles sollte zum Wohle des Volkes verkauft werden.‹
Entweder verstand Irina kein Englisch oder sie wollte sich zu keiner Antwort herablassen. Sie wandte sich ab, führte uns aus dem Raum und eine schmale Treppe hinauf. Ich weiß nicht, was ich da oben erwartete. Vielleicht ein unordentliches Arbeitszimmer, eine Höhle, in welcher der alte Professor überwinterte, aber vielleicht auch, dachte ich – mit der schon vertrauten Trauer –, ein geordnetes, aufgeräumtes Büro wie das, hinter dem sich der ungestüme, brillante Geist Professor Rossis verborgen hatte. Ich hatte diesen Gedanken noch nicht ganz zu Ende gedacht, als sich die Tür am Kopf der Treppe öffnete und ein weißhaariger kleiner, aber aufrechter Mann hinaus auf den Treppenabsatz trat. Irina eilte zu ihm, ergriff seine Hand mit beiden Händen und sprach in schnellem Bulgarisch auf ihn ein, in das sich ein paar erregte Lacher mischten.
Der alte Mann
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