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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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wie hypnotisiert vom morgendlichen Wispern der Blätter und dem Summen der Bienen und einem unerwarteten, unerträglichen Gefühl der Angst. Es war gut möglich, dachte ich, dass Stoichev uns nicht helfen konnte und eine letzte Sackgasse darstellte. In dem Fall würden wir nach Hause zurückkehren, nachdem wir einem langen Weg ins Nichts gefolgt waren. Ich hatte ihn mir schon Hunderte Male vorgestellt, den schweigsamen Flug zurück nach New York, von Sofia oder Istanbul – Turgut Bora würde ich gern noch einmal sehen, dachte ich –, und die Wiederaufnahme meines Lebens ohne Rossi, die Fragen danach, wo ich denn gewesen sei, die Probleme mit der Fakultät wegen der langen Abwesenheit, die Rückkehr zu meinen niederländischen Kaufleuten, angenehmen, prosaischen Menschen, die Suche nach einem neuen, weniger guten Doktorvater – die verschlossene Tür zu Rossis Büro. Diese verschlossene Tür fürchtete ich am meisten und die sicher noch weitergehende Untersuchung mit all den unangemessenen Fragen der Polizei: ›Also Sie sind… Mr Paul… richtig? Sie sind ganze zwei Tage, nachdem Ihr… Ihr Doktorvater verschwunden ist, zu einer… Reise aufgebrochen?‹ Diese Fragen, das kleine, sicher stattfindende verwirrte Treffen zu einer Art Gedenkstunde und am Ende auch die Frage nach Rossis Arbeiten, seinen Veröffentlichungsrechten, seiner Hinterlassenschaft.
    Hand in Hand mit Helen zurückzukehren, würde selbstverständlich ein großer Trost sein. Wenn dieser ganze Schrecken irgendwie sein Ende gefunden hatte, wollte ich sie um ihre Hand bitten. Zuerst würde ich, wenn möglich, etwas Geld sparen müssen und sie mit nach Boston nehmen, um sie meinen Eltern vorzustellen. Ja, Hand in Hand würden wir zurückkehren, aber es würde keinen Vater geben, von dem ich ihre Hand erbitten könnte. Ein Schleier aus Trauer lag vor meinen Augen, als ich beobachtete, wie Helen das Tor öffnete.
    Stoichevs Haus schien im Boden zu versinken. Das Fundament des Hauses war aus bräunlich grauen Steinen, die von weißem Mörtel zusammengehalten zu werden schienen. Später erfuhr ich, dass dieser Stein eine Art Granit war, aus dem die meisten bulgarischen Häuser gebaut waren. Die Mauern über dem Fundament waren aus Ziegeln von sanftestem, mildestem Rotgold, als hätten sie über Generationen Sonnenlicht in sich aufgenommen. Das Dach war mit bogenförmigen roten Keramikziegeln gedeckt, und Dach und Mauern schienen leicht vernachlässigt. Das Haus wirkte, als wäre es langsam aus der Erde herausgewachsen und kehrte nun ebenso langsam in sie zurück und als wären die Bäume rundum nur so hoch gewachsen, um diesem Vorgang ihren Schatten zu spenden. Das Erdgeschoss hatte an einer Seite einen weitläufigen Flügel, und auf der anderen erstreckte sich eine Pergola, über die oben Wein wucherte und die ganz aus hell leuchtenden Rosen zu bestehen schien. Darunter standen ein Holztisch und vier grobe Stühle, und ich stellte mir vor, wie sich der Schatten der Weinblätter mit fortschreitendem Sommer vertiefen würde. Hinter alldem und neben ein paar altehrwürdigen Apfelbäumen standen zwei geisterhaft wirkende Bienenstöcke, und nicht weit davon wiederum lag im vollen Sonnenlicht ein kleiner Gemüsegarten, dem jemand bereits zartes Grün in ordentlichen Reihen entlockt hatte. Ich konnte Küchenkräuter riechen und vielleicht auch Lavendel, frisches Gras und gebratene Zwiebeln. Jemand pflegte diesen Ort, und halb erwartete ich, Stoichev in dem Garten zu sehen, in Mönchskutte, kniend, mit seiner Schaufel in der Hand.
    Dann hörte man drinnen jemand singen, vielleicht in der Umgebung des zerbröckelnden Schornsteins und der Erdgeschossfenster. Es war aber nicht der Bariton des Einsiedlers, sondern eine süße, sehr weibliche Stimme, deren lebhafte Melodie sogar den an seiner Zigarette herumkauenden Ranov interessiert aufblicken ließ. ›Izvinete!‹, rief er. ›Dobar den!‹ Das Singen brach abrupt ab, es folgte ein Klappern und ein Schlag. Stoichevs Haustüre öffnete sich, und eine junge Frau erschien und starrte uns an, als wären Besucher das Letzte, was sie sich in ihrem Garten vorstellen konnte.
    Ich wollte vortreten, aber Ranov war schneller und nahm den Hut ab, nickte, verbeugte sich und begrüßte die Dastehende mit einem Schwall Bulgarisch. Die junge Frau legte eine Hand an die Wange und betrachtete Ranov mit einer Neugier, in die sich, wie mir schien, Vorsicht mischte. Auf den zweiten Blick war sie nicht ganz so jung, wie ich gedacht

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