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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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müssen.‹ Sie verflocht ihre Finger mit meinen. ›Dieses ganze Warten ist qualvoll für dich, nicht wahr?‹
    Ich nickte langsam. ›Wenn du Rossi kennen würdest…‹, sagte ich und hielt inne.
    Ihre Augen sahen in meine, und langsam wischte sie eine Locke zurück, die aus ihrer Nadel gerutscht war. Die Geste war so traurig, dass sie ihren nachfolgenden Worten großes Gewicht verlieh: ›Ich fange langsam an, ihn zu kennen – durch dich.‹
    In diesem Moment kam eine Kellnerin in einer weißen Bluse an unseren Tisch und fragte etwas. Helen drehte sich zu mir. ›Was wir trinken wollen?‹ Die Kellnerin musterte uns neugierig: Wesen, die eine fremde Sprache sprachen.
    ›Was kennst du, das wir bestellen könnten?‹, neckte ich Helen.
    ›Chai‹, sagte sie und deutete auf sich und dann mich. ›Tee bitte. Molya.‹
    ›Du lernst schnell‹, sagte ich, als die Kellnerin wieder nach drinnen verschwunden war.
    Sie zuckte mit den Schultern. ›Ich habe etwas Russisch gelernt. Und Bulgarisch ist dem sehr ähnlich.‹
    Als die Kellnerin uns den Tee gebracht hatte, rührte Helen mit düsterer Miene darin herum. ›Es ist so eine Wohltat, Ranov nicht mehr um sich zu haben, dass ich den Gedanken kaum ertrage, ihn morgen Wiedersehen zu müssen. Wie sollen wir nur ernsthaft weiterkommen, wenn er uns ständig im Nacken sitzt?‹
    ›Wenn ich wüsste, ob er irgendeinen Verdacht hat, was unsere Suche angeht, würde ich mich besser fühlen‹, sagte ich. ›Das Komische ist, dass er mich an jemanden erinnert, den ich schon mal getroffen habe, aber ich komme nicht darauf; da scheine ich eine Gedächtnislücke zu haben. Es ist wie eine Amnesie.‹ Ich sah in Helens ernstes, schönes Gesicht und spürte, wie mein Verstand plötzlich nach etwas zu greifen schien, wie er an der Seite eines Rätsels herumflatterte, und dabei ging es nicht um die Frage, wer Ranovs möglicher Zwillingsbruder war. Es hatte mit dem Zwielicht auf Helens Gesicht zu tun, damit, wie ich den Tee an die Lippen führte, und dem Wort, das ich gerade gebraucht hatte… Meine Gedanken waren schon einmal an dieser Stelle herumgeirrt, aber dieses Mal schafften sie plötzlich den Durchbruch.
    ›Amnesie‹, sagte ich. ›Helen… Helen, es ist eine Amnesie.‹
    ›Was?‹, fragte sie verblüfft. Ich nahm meine Aktentasche so plötzlich vom Schoß, dass unser Tee auf den Tisch schwappte. ›Sein Brief, die Reise nach Griechenland!‹
    Ich brauchte ein paar Minuten, um das verflixte Ding unter meinen Papieren und die richtige Passage zu finden; als ich sie Helen vorlas, weiteten sich deren Augen begreifend. ›Du erinnerst dich an den Brief, in dem er schreibt, wie er zurück nach Griechenland fährt, nach Kreta, nachdem man ihm in Istanbul seine Karten gestohlen hat und ihn sein Glück zu verlassen scheint und alles, aber auch alles schief zu gehen beginnt?‹ Ich wedelte mit der Seite. ›Hör zu: Die alten Männer in Kretas griechischen Kafenions und Tavernen schienen mir weit lieber ihre zweihundertzehn Vampirgeschichten erzählen zu wollen, als mir zu erklären, wo ich noch andere Tonscherben finden könnte wie die, die ich ihnen da zeigte, oder nach welchen alten Wracks ihre Großväter getaucht waren und was sie darin gefunden hatten.
    Eines Abends ließ ich mich von einem Fremden zu einer lokalen Spezialität einladen, die skurrilerweise Amnesia genannt wurde – mit dem Erfolg, dass ich mich am nächsten Tag hundeelend fühlte.‹
    ›Oh mein Gott‹, sagte Helen leise.
    ›Ich ließ mich von dem Fremden zu einem Getränk einladen, das Amnesia hieß‹, sagte ich mit eigenen Worten und versuchte, meine Stimme gedämpft zu halten. ›Wer zum Teufel glaubst du, war dieser Fremde? Und deshalb hat Rossi alles vergessen…‹
    ›Vergessen…‹ Helen schien von dem Wort wie hypnotisiert. ›Er hat Rumänien vergessen…‹
    ›Dass er jemals da gewesen ist. Seine Briefe an Hedges besagen, dass er von Rumänien zurück nach Griechenland wollte, um sich Geld zu besorgen und bei der Ausgrabung mitzumachen.‹
    ›Und vergaß dann meine Mutter‹, sagte Helen fast unhörbar.
    ›Deine Mutter‹, wiederholte ich und sah sie plötzlich wieder vor mir, wie sie in der Tür stand und uns nachsah. ›Er hat nie daran gedacht, nicht wieder zurückzukommen. Aber er hat plötzlich alles vergessen. Und deshalb… deshalb hat er mir auch erklärt, er könne sich nicht immer so deutlich an alles, was er herausgefunden habe, erinnern.‹
    Aus Helens Gesicht war alle Farbe

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