Der Historiker
es nicht einmal vor mir geöffnet hat.
Die Pferde sind müde nach unserem Aufstieg in die Berge, und wir werden nach dieser noch eine weitere Nacht hier schlafen. Wir selbst sind gut erholt durch die Dienste der Kirche hier, in der zwei Ikonen der reinsten Jungfrau erst vor achtzig Jahren Wunder gewirkt haben. Eine von ihnen zeigt immer noch die wunderbaren Tränen, die sie für einen Sünder geweint hat und die zu zwei Perlen geworden sind. Wir haben innig darum gebetet, dass sie unsere Mission beschützt, wir sicher die Große Stadt erreichen und in der Hauptstadt des Feindes eine Zuflucht finden, von der aus wir unsere Aufgabe versuchen können.
Demütig bin ich der Eure im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.
Bruder Kyrill April, im Jahre unseres Herrn 6985
Ich glaube, dass Helen und ich kaum atmeten, während Stoichev den Brief vorlas. Er übersetzte langsam und methodisch, mit großem Geschick. Ich wollte gerade laut etwas über die unzweifelhafte Verbindung der beiden Briefe ausrufen, als uns ein Schlag auf der Treppe draußen alle aufblicken ließ. ›Sie kommen zurück‹, sagte Stoichev ruhig. Er legte den Brief zur Seite und unseren für den Moment mit dazu, in seinen Schutz. ›Mr Ranov wurde Ihnen als Führer zugeteilt?‹
›Ja‹, sagte ich schnell. ›Und er scheint sich viel zu sehr für unsere Arbeit zu interessieren. Es gibt noch viel mehr, das wir Ihnen erzählen müssen, aber das alles ist recht persönlich und auch…‹ Ich hielt inne.
›Gefährlich?‹, fragte Stoichev und wandte uns sein wunderbares altes Gesicht zu.
›Wie haben Sie das erraten?‹ Ich konnte mein Erstaunen kaum verbergen. Nichts von dem, was wir gesagt hatten, deutete auf irgendeine Gefahr hin.
›Ah.‹ Er schüttelte den Kopf, und ich spürte in seinem Seufzer so viel Erfahrung und Bedauern, dass ich gar nicht erst versuchte, es zu ergründen. ›Es gibt auch ein paar Dinge, die ich Ihnen erzählen sollte. Ich habe nie damit gerechnet, noch einen weiteren dieser Briefe zu sehen. Sagen Sie Ranov gegenüber so wenig wie möglich.‹
›Keine Angst.‹ Helen schüttelte den Kopf, und die beiden lächelten einander an.
›Still‹, sagte Stoichev leise. ›Ich werde dafür sorgen, dass wir wieder sprechen können.‹
Irina und Ranov kamen mit klappernden Tellern ins Zimmer, und Irina fing an, Gläser zu verteilen, und stellte dazu eine Flasche mit bernsteinfarbener Flüssigkeit auf den Tisch. Ranov kam hinter ihr herein; er hatte einen Laib Brot und ein Gericht mit weißen Bohnen auf seinem Tablett stehen. Er lächelte und sah fast gebändigt aus. Ich wünschte, Stoichevs Nichte danken zu können. Sie schob ihrem Onkel den Stuhl bequem zurecht und bat uns alle, wieder Platz zu nehmen, und mir wurde bewusst, dass mich die morgendliche Exkursion schrecklich hungrig gemacht hatte.
›Bitte, verehrte Gäste, lassen Sie es sich gut gehen.‹ Stoichev machte eine Geste über den Tisch wie der Kaiser von Konstantinopel. Irina schenkte den Schnaps ein – der Geruch allein hätte ein kleines Tier umbringen können –, und er prostete uns galant und mit einem offenen, gelbzähnigen Lächeln zu. ›Trinken wir auf die Freundschaft der Wissenschaftler von überall.‹
Wir alle erwiderten seinen Trinkspruch, bis auf Ranov, der ironisch sein Glas hob und uns ansah.
›Auf dass Ihre Kenntnisse dem Wissen der Partei und des Volkes dienlich sind‹, sagte er mit einer leichten Verbeugung. Das nahm mir fast den Appetit. Sprach er ganz allgemein oder wollte er das Wissen der Partei um etwas Besonderes erweitern, das er von uns zu erfahren hoffte? Aber ich erwiderte seine Verbeugung und trank meinen rakiya aus. Ich entschied, dass er sich nur schnell hinunterschütten ließ, und die Verbrennung dritten Grades, die mir das hinten in der Kehle verschaffte, wurde bald schon von einem angenehmen Glühen ersetzt. Noch mehr von dieser Trinkerei, dachte ich, und ich könnte in Gefahr geraten, leichte Sympathien für Ranov zu entwickeln.
›Ich freue mich, dass ich die Gelegenheit habe, mit jemandem zu sprechen, der sich für unsere mittelalterliche Geschichte interessiert‹, sagte Stoichev an mich gerichtet. ›Vielleicht wäre es interessant für Sie und Miss Rossi, einen Feiertag zu erleben, der zwei unserer großen Gestalten aus dem Mittelalter gewidmet ist. Morgen ist der Tag von Kyrill und Metod, den Schöpfern der wunderbaren slawischen Schrift. Auf Englisch sagen Sie sicherlich Cyril und Methodius – und
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