Der Historiker
Vaters in so grober Unordnung gesehen. Sein Koffer lag halb ausgepackt neben dem Bett. Offenbar hatte er etwas gesucht und dann ein oder zwei Stücke herausgezogen und dabei eine Spur aus Socken und Unterhemden auf dem Boden hinterlassen. Sein leichter Leinenmantel lag quer über dem Bett. Er musste sich in großer Eile umgezogen haben und hatte seinen Anzug neben den Koffer fallen lassen. Mir kam kurz der Gedanke, dass mein Vater das alles nicht so zurückgelassen, sondern jemand sein Zimmer durchsucht hatte, während er nicht da war. Aber die Art, wie sein Anzug dalag, wie eine abgestreifte Schlangenhaut, brachte mich von dem Gedanken wieder ab. Seine Wanderschuhe waren nicht an ihrem gewöhnlichen Platz in seinem Koffer, und die Schuhspanner aus Zedernholz, die immer in ihnen steckten, waren achtlos zur Seite geworfen. Ganz eindeutig war er in einer Eile gewesen wie noch nie in seinem Leben.
57
Als Stoichev uns sagte, auch er habe einen von Bruder Kyrills Briefen, sahen Helen und ich uns voller Verwunderung an.
›Was meinen Sie damit?‹, fragte sie endlich.
Stoichev klopfte aufgeregt auf Turguts Übersetzung. ›Ich habe ein Schriftstück, das mir 1924 mein Freund Atanas Angelov gegeben hat. Es beschreibt einen anderen Teil genau dieser Reise, da bin ich sicher. Ich wusste nicht, dass es noch weitere Belege zu dieser Unternehmung gibt. Es war so, dass mein Freund, der arme Kerl, nachdem er es mir gegeben hat, plötzlich verstarb. Warten Sie…‹ Er erhob sich und wankte in seiner Eile, so dass Helen und ich beide aufsprangen, um ihn zu halten, sollte er fallen. Er fing sich jedoch ohne unsere Hilfe, ging in einen der kleineren Nebenräume und bedeutete uns, ihm zu folgen und dabei nicht über die Bücherstapel zu stolpern, die darin aufgereiht waren. Er ließ den Blick über die Regale gleiten und langte nach einer Schachtel, die ich ihm herunterheben half. Er holte einen Pappordner daraus hervor, der mit einer Kordel verschnürt war, trug ihn zum Tisch, öffnete ihn unter unseren neugierigen Augen und zog ein so brüchiges Pergament heraus, dass ich mit Schaudern verfolgte, wie er damit umging. Er stand da und betrachtete es lange, wie gelähmt, und seufzte dann. ›Das ist das Original, wie Sie sehen können. Die Unterschrift…‹
Wir beugten uns darüber, und eine Gänsehaut lief mir über Arme, Schultern und Hals, als ich den so sorgsam in kyrillischer Schrift geschriebenen Namen sah, dass sogar ich ihn lesen konnte: Kyrill, und das Jahr: 6985. Ich sah Helen an, und sie biss sich auf die Unterlippe. Der verblichene Name des Mönchs war von einer schrecklichen Wirklichkeit. Genau wie die Tatsache, dass Bruder Kyrill einst so lebendig gewesen war wie wir und die Feder mit warmer, beweglicher Hand auf das Pergament gesetzt hatte.
Stoichev sah fast so ehrfürchtig aus, wie ich mich fühlte, obwohl der Anblick einer solch alten Handschrift zu seinen täglichen Erfahrungen zählen musste. ›Ich habe ihn ins Bulgarische übersetzt‹, sagte er nach einer Weile und zog ein Stück Florpostpapier heraus, auf dem ein mit Schreibmaschine geschriebener Text stand. Wir setzten uns. ›Ich werde versuchen, ihn Ihnen vorzulesen.‹ Er räusperte sich und las uns eine grobe, aber sachkundige Version eines Briefes vor, der inzwischen zigmal übersetzt worden ist.
Eure Exzellenz, Herr Abt Eupraxios:
Ich nehme meinen Stift in die Hand, um die Aufgabe zu erfüllen, die Ihr mir in Eurer Weisheit auferlegt habt und die darin besteht, Euch die Besonderheiten unserer Mission zu berichten, so wie sie uns begegnen. Möge ich ihnen und Euren Wünschen mit Gottes Hilfe Gerechtigkeit widerfahren lassen. Diese Nacht schlafen wir in der Nähe von Virbius, zwei Tagesreisen von Euch, im Kloster von Sankt Vladimir, wo uns die heiligen Brüder in Eurem Namen willkommen geheißen haben. Wie Ihr mir aufgetragen habt, bin ich allein zum Herrn Abt gegangen und habe ihm unter größter Geheimhaltung von unserer Mission berichtet, nicht einmal ein Novize oder Diener war anwesend. Er hat angeordnet, dass unser Wagen in den Ställen im Hof unter Verschluss bleibt, mit zwei seiner Mönche und zwei unserer Männer als Wache. Ich hoffe, wir werden oft noch auf solch ein Verständnis und solche Sicherheit treffen, wenigstens bis wir in die Gebiete der Ungläubigen gelangen. Wie Ihr mir aufgetragen habt, habe ich ein Buch in die Hände des Herrn Abtes gelegt, mit Euren Verfügungen, und sah, dass er es gleich versteckte und
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