Der Historiker
Sie nennen sie Kyrillisch, nicht wahr? Wir sagen kyrillitsa, nach Kyrill, dem Mönch, der unsere Schriftsprache erschaffen hat.‹
Einen Moment lang war ich verwirrt und dachte an unseren Bruder Kyrill, aber als Stoichev weiterredete, begriff ich, worum es ihm ging und wie einfallsreich er war.
›Ich habe heute Nachmittag viel zu schreiben‹, sagte er, ›aber wenn Sie morgen zurückkommen wollen, werden auch ein paar von meinen früheren Studenten da sein, um den Tag zu feiern, und dann kann ich Ihnen mehr über Kyrill berichten.‹
›Das ist äußerst nett von Ihnen‹, sagte Helen. ›Wir wollen nicht zu viel Ihrer Zeit beanspruchen, aber es wäre uns eine Ehre zu kommen. Kann das eingerichtet werden, Genosse Ranov?‹
Der ›Genosse‹ schien bei Ranov, der Helen düster über seinen Schnaps hinweg ansah, seine Wirkung zu tun. ›Sicher‹, sagte er. ›Wenn Sie so mit Ihrer Arbeit fortfahren wollen, helfe ich Ihnen gern dabei.‹
›Sehr gut‹, sagte Stoichev. ›Wir treffen uns hier um halb zwei, und Irina wird etwas Gutes zum Essen bereiten. Es ist immer eine nette Gruppe. Vielleicht treffen Sie dabei ein paar Kollegen, deren Arbeit Sie interessiert.‹
Wir dankten ihm übermäßig und gehorchten Irinas Ermahnungen zu essen, obwohl ich bemerkte, dass Helen den Rest ihres rakiyas stehen ließ. Als wir das einfache Mahl beendet hatten, erhob Helen sich, und wir alle folgten ihrem Beispiel. ›Wir wollen Sie nicht weiter ermüden, Professor‹, sagte sie und nahm seine Hand.
›Das ist doch nicht der Rede wert, meine Liebe.‹ Stoichev erwiderte ihren Händedruck, aber ich hatte den Eindruck, dass er erschöpft aussah. ›Ich freue mich darauf, Sie morgen wiederzusehen.‹
Irina brachte uns durch den Garten bis ans Tor. ›Bis morgen‹, sagte sie mit einem freundlichen Lächeln und fügte noch etwas Keckes auf Bulgarisch hinzu, worauf Ranov sich zunächst übers Haar strich, bevor er seinen Hut aufsetzte. ›Sie ist eine hübsche Frau‹, bemerkte er zufrieden, während wir zu seinem Auto hinübergingen, und Helen verdrehte hinter seinem Rücken die Augen.
Erst am Abend hatten wir ein paar Minuten für uns allein. Ranov hatte sich nach einem endlosen Essen im trostlosen Speiseraum des Hotels verabschiedet. Helen und ich stiegen zusammen die Treppe hinauf, da der Aufzug außer Betrieb war, und hielten uns dann eine Weile im Gang nahe bei meinem Zimmer auf, süße Momente, die wir unserer eigentümlichen Situation abrangen. Als wir dachten, dass Ranov weg sein musste, gingen wir wieder nach unten und spazierten zu einem Café in einer Seitenstraße, wo es ein paar Tische unter Bäumen gab.
›Auch hier beobachtet uns jemand‹, sagte Helen mit gedämpfter Stimme, als wir uns an einen der Metalltische setzten. Ich legte mir meine Aktentasche vorsichtig auf den Schoß – ich stellte sie nicht einmal mehr unter Kaffeehaustischen ab. Helen lächelte. ›Aber wenigstens gibt es hier keine Wanzen wie in meinem Hotelzimmer. Und in deinem.‹ Sie sah hinauf in die grünen Äste über uns. ›Linden‹, sagte sie. ›In ein paar Monaten sind sie voller Blüten. Die Leute machen bei uns zu Hause Tee daraus – und hier sicher auch. Bevor du dich dann draußen an einen Tisch wie diesen hier setzt, musst du ihn erst putzen, die Blüten und Pollen sind überall. Sie riechen nach Honig, sehr süß und frisch.‹ Sie machte eine schnelle Bewegung, als wischte sie eine ganze Schicht hellgrüner Blüten zur Seite.
Ich nahm ihre Hand und drehte sie um, so dass ich die Handfläche und die Linien darin sehen konnte. Ich hoffte, sie besagten, dass sie ein langes Leben, viel Glück und ich Anteil daran haben würde. ›Was hältst du davon, dass Stoichev diesen Brief hat?‹
›Das mag ein Glücksfall für uns sein‹, sagte sie. ›Erst dachte ich, der Brief wäre nur ein weiteres Teil eines historischen Puzzles – ein wundervolles Teil, zugegeben, aber wie sollte er uns weiterhelfen? Da Stoichev jedoch glaubt, unser Brief könnte gefährlich sein, habe ich große Hoffnung, dass er etwas Wichtiges weiß.‹
›Das hoffe ich auch‹, gab ich zu. ›Wobei ich denke, er könnte auch gemeint haben, dass es einfach politisch sensibles Material ist, wie so vieles seiner Arbeit, weil es dabei um die Geschichte der Kirche geht.‹
›Ich weiß.‹ Helen seufzte. ›Vielleicht meinte er nur das.‹
›Das reicht, um ihn in Ranovs Gegenwart vorsichtig werden zu lassen.‹
›Ja. Wir werden uns bis morgen gedulden
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