Der Historiker
heiraten. Ich bin nicht die Art Frau, die heiratet. Und was ist hiermit?‹ Sie berührte das Tuch um ihren Hals. ›Würdest du eine Frau heiraten, die von der Hölle gezeichnet ist?‹
›Ich würde dich vor jeder Hölle schützen, die je in deine Nähe käme.‹
›Wäre das keine Last für dich? Und wie könnten wir Kinder haben‹ – ihr Blick war fest und direkt –, ›wenn wir doch wüssten, dass sie von dieser Verunreinigung betroffen sein könnten?‹
Es fiel mir schwer, trotz des Brennens in meiner Kehle zu sprechen. ›Dann ist deine Antwort also Nein? Oder soll ich dich später noch einmal fragen?‹
Ihre Hand – ich konnte mir nicht vorstellen, ohne diese Hand mit ihren eckigen Fingernägeln und der weichen Haut über dem harten Knochen zu sein. Diese Hand schloss sich um meine, und mir kam der flüchtige Gedanke, dass ich gar keinen Ring hätte, um ihn ihr anzustecken.
Helen sah mich mit ernstem Blick an. ›Die Antwort ist, dass ich dich natürlich heiraten will.‹
Nach Wochen vergeblicher Suche nach dem anderen Menschen, den ich so gern mochte, war ich so verblüfft über die Leichtigkeit dieser Eröffnung, dass ich weder sprechen noch sie küssen konnte. Wir saßen schweigend aneinander geschmiegt da und sahen hinunter auf das Rot, Gold und Grau der gewaltigen Klosteranlage.
63
Barley stand neben mir im Hotelzimmer meines Vaters und betrachtete das Durcheinander, und er bemerkte schneller, was ich bisher übersehen hatte: die Papiere und Bücher auf dem Bett. Wir fanden eine zerfledderte Ausgabe von Bram Stokers Dracula, eine neue Geschichte mittelalterlicher Ketzereien im südlichen Frankreich und einen sehr alt aussehenden Band mit europäischen Vampirlegenden.
Zwischen den Büchern lagen mehrere Postkarten in einer Handschrift, die mir völlig unbekannt war – kleine ordentliche Buchstaben in dunkler Tinte. Auf den Karten klebten Briefmarken aus einem Reigen von Ländern: Portugal, Frankreich, Italien, Monaco, Finnland, Österreich. Die Briefmarken waren ohne jeden Stempel, unberührt. Manchmal lief das Mitgeteilte von einer Karte auf eine andere über und nahm vier, fünf Stationen, alles sauber nummeriert. Höchst erstaunlich war, dass sie sämtlich mit »Helen Rossi« unterzeichnet und an mich adressiert waren.
Barley sah mir über die Schulter, bemerkte mein Erstaunen, und so setzten wir uns zusammen auf die Bettkante. Die erste Karte war aus Rom, eine Schwarzweißfotografie der skelettähnlichen Ruinen des Forums.
Mai 1962
Meine geliebte Tochter,
in welcher Sprache soll ich dir schreiben, Kind meines Herzens und meines Körpers, das ich seit mehr als fünf Jahren nicht gesehen habe? Diese ganze Zeit über hätten wir miteinander reden sollen, eine Sprache ohne Worte, nur kleine Geräusche und Küsse, Blicke und Murmeln. Es fällt mir so schwer, darüber nachzudenken und mir vorzustellen, was ich verpasst habe, dass ich für heute mit dem Schreiben aufhören muss, wo ich doch gerade erst damit angefangen habe, es zu versuchen.
Deine dich liebende Mutter, Helen Rossi
Die zweite war eine Farbpostkarte mit Blumen und Urnen, die bereits verblichen war: »Jardins de Boboli« – aus Boboli.
Mai 1962
Meine geliebte Tochter,
ich will dir ein Geheimnis anvertrauen: Ich hasse dieses Englisch. Englisch ist eine Grammatikübung oder ein Literaturseminar. In meinem Herzen fühle ich, dass ich am besten in meiner eigenen Sprache mit dir sprechen könnte, auf Ungarisch, oder sogar in der Sprache, die in meinem Ungarisch mitfließt: Rumänisch. Rumänisch ist die Sprache des Teufels, dem ich auf der Spur bin, aber selbst das hat sie mir nicht verdorben. Wenn du hier an diesem Morgen auf meinem Schoß sitzen und diesen Garten sehen könntest, würde ich dir die erste Unterrichtsstunde geben: Ma num esc… Und dann würde ich wieder und wieder deinen Namen in der weichen Sprache aussprechen, die auch deine Muttersprache ist. Ich würde dir erklären, dass Rumänisch die Sprache tapferer, liebenswürdiger, trauriger Menschen ist, der Hirten und Bauern, die Sprache deiner Großmutter, deren Leben er aus der Ferne zerstört hat. Ich würde dir all die schönen Dinge erzählen, die sie mir erzählt hat, von den Sternen nachts über ihrem Dorf, den Lichtern am Fluss. Ma num esc… Dir all das zu erzählen wäre ein Tag unerträglichen Glücks.
Deine dich liebende Mutter, Helen Rossi
Barley und ich sahen einander an, und er legte sanft seinen Arm um meinen
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