Der Historiker
Jahrhunderts sagte Helen überzeugt –, und ich blieb vor einem besonders nüchternen Bild stehen, einem Heiligen mit einem langen weißen Bart und ordentlich gescheiteltem weißem Haar, der uns offen anstarrte. Helen las die Buchstaben neben seinem Heiligenschein. ›Ivan Rilski.‹
›Das ist der, dessen Knochen acht Jahre, bevor unser Freund aus der Walachei nach Bulgarien kam, hergebracht wurde, nicht wahr? Er taucht in der Chronik auf.‹
›Ja.‹ Helen starrte das Bild an, als glaubte sie, es würde zu uns sprechen, wenn wir nur lange genug davorstanden.
Das endlose Dastehen begann an meinen Nerven zu zerren. ›Helen‹, sagte ich, ›lass uns einen Spaziergang machen. Wir könnten einen der Berge ein Stück weit hochsteigen und einen Blick über das Tal werfen.‹ Wenn ich mich nicht ein wenig ablenkte, machte mich das fortwährende Grübeln noch verrückt.
›Also gut‹, sagte Helen und musterte mich, als lese sie meine Ungeduld. ›Wenn es nicht zu weit ist. Ranov wird uns niemals weit von der Leine lassen.‹
Der Pfad den Berg hinauf wand sich durch dichten Wald, der uns ebenso gut vor der Nachmittagshitze schützte, wie es die Kirche getan hatte. Es tat so gut, einmal ohne Ranov zu sein, dass ich übermütig Helens Hand schwenkte, während wir dahinwanderten. ›Denkst du, es war schwer für ihn, sich zwischen Stoichev und uns zu entscheiden?‹
›Oh nein‹, sagte Helen schwach. ›Er hat ganz sicher jemanden hinter uns hergeschickt. Wer immer es sein mag, wir werden schon auf ihn treffen, wenn wir mehr als eine halbe Stunde weg sind. Ranov kann sich sicher nicht allein um uns kümmern, und er muss Stoichev sorgfältig im Auge behalten, um herauszufinden, wohin sich unsere Suche entwickelt.‹
›Du klingst so sachlich‹, sagte ich zu ihr und sah sie von der Seite an. Sie hatte ihren Hut nach hinten auf den Kopf geschoben, und ihr Gesicht war leicht gerötet. ›Ich kann mir nicht vorstellen, wie es sein muss, in diesem Zynismus aufzuwachsen und ständig unter Beobachtung zu stehen.‹
Helen zuckte mit den Schultern. ›Es kam mir gar nicht so schlimm vor, schließlich kannte ich es nicht anders.‹
›Und doch wolltest du deine Heimat verlassen und in den Westen.‹
›Ja‹, sagte sie und sah mich jetzt ihrerseits von der Seite an. ›Ich wollte raus aus meiner Heimat.‹
Wir machten eine Pause und setzten uns für ein paar Minuten auf einen umgestürzten Baum, der am Wegrand lag. ›Ich habe darüber nachgedacht, warum sie uns nach Bulgarien haben einreisen lassen‹, sagte ich Helen und senkte dabei selbst hier draußen im Wald die Stimme.
›Und warum wir so allein herumwandern dürfen.‹ Sie nickte. ›Hast du auch darüber nachgedacht?‹
›Es scheint so‹, sagte ich langsam, ›dass sie, wenn sie uns nicht davon abhalten, nach dem zu suchen, wonach wir suchen – was sie problemlos könnten –, dass sie dann wollen, dass wir es finden.‹
›Gut, Sherlock.‹ Helen fächelte meinem Gesicht Luft zu. ›Du lernst eine ganze Menge.‹
›Nehmen wir also an, sie wissen, wonach wir suchen, oder vermuten es zumindest. Warum sollten sie denken, es habe einen Wert, oder es sei auch nur möglich, dass Dracula untot ist?‹ Es kostete mich einige Anstrengung, das laut auszusprechen, obwohl meine Stimme nur mehr ein Flüstern war. ›Du selbst hast mir oft genug erklärt, mit wie großer Verachtung kommunistische Regierungen auf bäuerlichen Aberglauben hinabsehen. Warum sollten sie uns so ermutigen, indem sie nicht unterbinden, was wir tun? Glauben sie eine Art übernatürlicher Macht über das bulgarische Volk zu erlangen, wenn wir sein Grab hier finden?‹
Helen schüttelte den Kopf. ›Das nicht. Sie sind zweifellos an Macht interessiert, aber nähern sich allem immer wissenschaftlich. Wenn es im Übrigen etwas Interessantes zu entdecken gibt, würden sie nie wollen, dass sich ein Amerikaner damit schmücken kann.‹ Sie grübelte eine Weile. ›Überleg doch nur: was könnte wichtiger für die Wissenschaft sein, als zu entdecken, dass sich Tote wieder zum Leben erwecken lassen – oder zumindest zum Untot-Sein? Besonders im Ostblock mit all seinen Führern, die einbalsamiert in ihren Grüften liegen?‹
Ein Bild von Georgi Dimitrows gelbem Gesicht im Mausoleum in Sofia blitzte vor mir auf. ›Das gibt uns umso mehr Grund, Dracula zu zerstören‹, sagte ich, spürte aber, wie mir dabei der Schweiß auf die Stirn trat.
›Wobei ich mich frage‹, meinte Helen düster, ›ob
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