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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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glaubst.‹ Sie schenkte mir ihr rätselhaftes, anziehendes Lächeln.
    ›Was ich glaube?‹
    ›Ja. Siehst du, ein Körper, der zu einem Untoten werden kann, oder bereits ein Untoter ist, zerfällt nicht, oder zumindest nur sehr langsam. Wenn die Dorfbewohner in Osteuropa argwöhnten, es mit einem Fall von Vampirismus zu tun zu haben, gruben sie traditionell ihre Toten wieder aus, um ihren Verfall zu überprüfen, und zerstörten rituell die, deren Körper sich nicht ausreichend zersetzt hatten. Das geht heute zum Teil noch so.‹
    Stoichev erschauderte. ›Ein merkwürdiges Unterfangen. Ich habe gehört, dass dieser Brauch auch hier in Bulgarien existiert, obwohl es natürlich illegal ist. Die Kirche war immer gegen die Entweihung von Gräbern, und die Regierung heute kämpft gegen alle Formen von Aberglauben, so gut es geht.‹
    Helen zuckte leicht mit den Schultern. ›Aber ist es wirklich merkwürdiger, als auf eine Wiederauferstehung der Körper zu hoffen?‹, fragte sie, doch sie lächelte Stoichev dabei an, und er ließ sich von ihr bezaubern.
    ›Madam‹, sagte er, ›wir haben sehr unterschiedliche Auffassungen, was unser Erbe angeht, aber ich beglückwünsche Sie für Ihr schnelles Denken. Und jetzt, meine Freunde, würde ich gern einmal Ihre Karten studieren. Mir kommt da der Gedanke, dass es hier in dieser Bibliothek Materialien geben könnte, die uns bei der Entschlüsselung weiterhelfen könnten. Geben Sie mir eine Stunde – was ich nun tun werde, wird langweilig für Sie sein, und es würde mich zu viel Zeit kosten, es zu erklären.‹
    Ranov war gerade wieder hereingekommen, stand ruhelos da und sah sich in der Bibliothek um. Ich hoffte, er hatte die Erwähnung unserer Karten nicht mitbekommen.
    Stoichev räusperte sich. ›Vielleicht möchten Sie sich die Kirche ansehen und ihre Schönheit bewundern?‹ Er warf verstohlen einen viel sagenden Blick zu Ranov.
    Helen stand auf und ging zu Ranov, um ihn in ein kleines Problem zu verwickeln, während ich diskret den Umschlag mit den Karten aus meiner Aktentasche herausangelte. Als ich den Eifer sah, mit dem Stoichev danach griff, machte mein Herz einen hoffnungsvollen Satz.
    Unglücklicherweise schien Ranov mehr daran interessiert, Stoichev bei seiner Arbeit über die Schulter zu blicken und mit dem Bibliothekar zu konferieren, als uns zu folgen, so inständig ich auch hoffte, dass wir ihn mit uns ziehen könnten. ›Würden Sie uns helfen, etwas zu essen zu finden?‹, fragte ich ihn. Der Bibliothekar stand schweigend da und musterte mich genau.
    Ranov lächelte. ›Haben Sie Hunger? Es ist noch keine Essenszeit. Abendessen gibt es um sechs. Bis dahin werden wir warten. Unglücklicherweise müssen wir mit den Mönchen essen.‹ Damit drehte er uns den Rücken zu und studierte ein Regal mit ledergebundenen Büchern. Das Thema war für ihn erledigt.
    Helen folgte mir zur Tür und drückte meine Hand. ›Sollen wir einen Spaziergang machen?‹, sagte sie, als wir draußen waren.
    ›Ich weiß schon gar nicht mehr, wie so etwas ohne Ranov geht‹, sagte ich grimmig. ›Worüber können wir ohne ihn sprechen?‹
    Sie lachte, aber ich sah, dass auch sie sich Sorgen machte. ›Soll ich noch einmal hineingehen und versuchen, ihn abzulenken?‹
    ›Nein‹, sagte ich, ›besser nicht. Je mehr wir uns bemühen, desto mehr wird er sich fragen, was Stoichev wohl gerade macht. Wir werden ihn ebenso wenig los, wie wir eine Fliege loswürden.‹
    ›Er gäbe eine gute Fliege ab.‹ Helen nahm meinen Arm. Die Sonne schien immer noch hell in den Hof, und die Luft war heiß, als wir aus dem Schatten der hohen Klosterwände und ihrer Galerien heraustraten. Als ich aufblickte, sah ich die bewaldeten Hänge um das Kloster herum und ganz oben die senkrecht aufragenden Felsengipfel. Hoch über uns ging ein Adler in Querlage und begann seine Kreise zu ziehen. Mönche in schweren gegürtelten schwarzen Kutten mit steifen schwarzen Kappen und langen schwarzen Bärten gingen zwischen dem Erdgeschoss des Klosters und der Kirche hin und her, kehrten den Boden der Galerien oder saßen im schattigen Dreieck neben der Vorhalle der Kirche. Ich fragte mich, wie sie die Hitze in dieser Kleidung aushielten. Das Innere der Kirche beantwortete einen Teil meiner Frage. Drinnen war es frühlingskühl, ein paar Kerzen flackerten, und überall schimmerten Gold, Messing und Edelsteine. Die Wände waren reich vergoldet und mit Bildern von Heiligen und Propheten bemalt – neunzehntes

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