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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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ihn zu zerstören irgendeinen Unterschied macht, was die Zukunft angeht. Denke an das, was Stalin seinem Volk angetan hat. Denk an Hitler. Die mussten keine fünfhundert Jahre leben, um ihre Gräuel zu vollbringen.‹
    ›Ich weiß‹, sagte ich. ›Das habe ich auch schon gedacht.‹
    Helen nickte. ›Das Komische ist, weißt du, dass Stalin ganz offen Ivan den Schrecklichen bewunderte. Beide waren Führer, die gewillt waren, ihr eigenes Volk zu unterdrücken und zu töten… alles Notwendige zu tun, um ihre Macht zu festigen. Und wen, glaubst du, hat Ivan der Schreckliche bewundert?‹
    Ich spürte, wie mir das Blut stockte. ›Du hast mir erzählt, dass es viele russische Geschichten über Dracula gab.‹
    ›Ja. Genau.‹
    Ich starrte sie an.
    ›Kannst du dir eine Welt vorstellen, in der Stalin fünfhundert Jahre lang leben könnte?‹ Sie kratzte mit dem Fingernagel in einer weichen Stelle des Baumstamms. ›Oder gar für immer?‹
    Ich spürte, wie ich die Fäuste ballte. ›Glaubst du, wir können ein mittelalterliches Grab finden, ohne jemanden hinzuführen?‹
    ›Das wird sehr schwierig sein, vielleicht unmöglich. Ich bin sicher, dass sie überall ihre Leute haben, die uns beobachten.‹
    In diesem Augenblick kam ein Mann um eine Biegung des Weges. Sein plötzliches Erscheinen rüttelte mich derartig auf, dass ich fast laut geflucht hätte. Aber es war ein einfach aussehender Mann in groben Kleidern und mit einem Bündel Holz über der Schulter, und als er an uns vorbeikam, winkte er uns mit der Hand zu. Ich sah Helen an. ›Siehst du?‹, sagte sie ruhig.
     
     
    Ein Stück weiter den Berg hinauf fanden wir einen stark vorspringenden Felsen. ›Sieh mal‹, sagte Helen. ›Setzen wir uns ein paar Minuten darauf.‹
    Das tiefe bewaldete Tal lag direkt unter uns und wurde fast ganz von den Mauern und roten Dächern des Klosters ausgefüllt. Von hier oben war das gewaltige Ausmaß des Komplexes deutlich zu erkennen, ein Geviert hoher Bauten um die Kirche, deren Kuppeln im Nachmittagslicht leuchteten, und daneben erhob sich der Hrelyos-Turm. ›Von hier oben sieht man genau, wie gut befestigt das Kloster war. Stell dir vor, wie oft Feinde so darauf hinuntergeblickt haben müssen.‹
    ›Oder Pilger‹, erinnerte mich Helen. ›Für die war es ein spirituelles Ziel, keine militärische Herausforderung.‹ Sie lehnte sich zurück und strich den Rock glatt. Sie hatte ihre Handtasche weggelegt, den Hut abgenommen und wegen der Hitze die Ärmel ihrer hellen Bluse aufgekrempelt. Feiner Schweiß stand ihr auf Stirn und Wangen. Diesen Gesichtsausdruck mochte ich an ihr am liebsten – gedankenverloren sah sie gleichzeitig in sich hinein und um sich herum, mit großen, aufmerksamen Augen und festem Kinn. Aus irgendeinem Grund gefiel sie mir so besser, als wenn sie sich mir direkt zuwandte. Sie trug immer noch ihr Tuch um den Hals, obwohl der Biss des Bibliothekars zu einem Fleck verblichen war, und das kleine Kruzifix glitzerte darunter. Ihre herbe Schönheit versetzte mir einen Stich, nicht aus bloßer körperlicher Sehnsucht, sondern aus einer Art Ehrfurcht vor ihrer Vollkommenheit. Sie war unberührbar, mein und doch so weit entfernt.
    ›Helen‹, sagte ich, ohne ihre Hand zu nehmen. Ich hatte gar nicht sprechen wollen, aber ich konnte nicht anders. ›Ich möchte dich etwas fragen.‹
    Sie nickte, den Blick immer noch auf das mächtige Heiligtum unter uns gerichtet.
    ›Helen, willst du mich heiraten?‹
    Langsam wandte sie sich mir zu, und ich fragte mich, ob das, was ich auf ihrem Gesicht sah, Erstaunen, Amüsiertheit oder Freude war. ›Paul‹, sagte sie ernst. ›Wie lange kennen wir uns jetzt?‹
    ›Dreiundzwanzig Tage‹, gab ich zu. Plötzlich wurde mir bewusst, dass ich nicht wirklich darüber nachgedacht hatte, was ich tun würde, wenn sie Nein sagte, aber es war zu spät, meine Frage zurückzuziehen, um sie für eine andere Gelegenheit aufzubewahren. Und wenn sie tatsächlich Nein sagte, würde ich mich auch nicht einfach den Berg hinunterwerfen können, so mitten in meiner Suche nach Rossi, mochte die Versuchung auch groß sein.
    ›Glaubst du, du kennst mich?‹
    ›Absolut nicht‹, konterte ich standhaft.
    ›Glaubst du, ich kenne dich?‹
    ›Ich bin nicht sicher.‹
    ›Wir haben so wenig Erfahrung miteinander, und wir kommen aus völlig verschiedenen Welten.‹ Jetzt lächelte sie wieder, als wollte sie ihren Worten den Stachel nehmen. ›Im Übrigen habe ich immer gedacht, ich wollte nie

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