Der Historiker
Licht pulsierte auf dem edlen roten und weißen Mauerwerk um uns herum. Ich konnte all die Schönheit kaum noch spüren.
Am zweiten Morgen erwachte ich sehr früh. Ich dachte, dass ich vielleicht das Läuten der Kirchenglocken gehört hätte, konnte aber nicht sagen, was Traum und was Wirklichkeit gewesen war. Als ich den rauen Vorhang vor dem Fenster meiner Zelle zur Seite schob, glaubte ich, vier oder fünf Mönche sehen zu können, die zur Kirche hinübergingen. Ich zog mich an. Gott, wie schmutzig meine Kleider mittlerweile waren, aber ich hatte keinerlei Lust, sie zu waschen. Leise ging ich die Treppe von der Galerie in den Hof hinunter. Es war wirklich noch sehr früh und draußen noch düster; der Mond ging gerade hinter den Bergen unter. Erst wollte ich in die Kirche gehen und blieb für einen Moment vor der offenen Tür stehen. Kerzenlicht und der Geruch von Wachs und Weihrauch drangen aus dem Inneren, das mittags völlig finster aussah und zu dieser Stunde warm und einladend wirkte. Ich konnte hören, wie die Mönche sangen. Das melancholische Anschwellen ihres Gesangs traf mich wie ein Dolch mitten ins Herz. Wahrscheinlich hatten sie eines dämmrigen Morgens im Jahre 1477 genauso gesungen, hatten gesungen, als die Brüder Kyrill und Stefan und die anderen Mönche die Leichname ihrer gemarterten Freunde – im Beinhaus? – zurückließen, in die Berge aufbrachen und den Schatz in ihrem Karren bewachten. Aber in welche Richtung waren sie gezogen? Ich sah nach Osten, nach Westen, wo sich der Mond sehr schnell aus meinem Blick senkte, und nach Süden.
Eine Brise war aufgekommen und fuhr in das Blattwerk der Linden, und kurz darauf sah ich das erste Sonnenlicht weit oben über die Gipfel lugen und bald auch schon über die Klostermauern steigen. Es wäre ein Moment seltener Freude gewesen, die Art von Versinken in der Geschichte, von der ich immer träumte, hätte ich nur das Herz dafür gehabt. Langsam drehte ich mich, konzentrierte mich und versuchte intuitiv herauszufinden, welche Richtung Bruder Kyrill eingeschlagen hatte. Irgendwo da draußen war womöglich ein Grab, von dem man schon so lange nicht mehr wusste, wo es lag, dass seine Existenz selbst in Vergessenheit geraten war. Es konnte eine Tagesreise zu Fuß bis zu ihm hin sein, eine Woche, drei Stunden. Nicht viel weiter und ohne Zwischenfall, hatte Zacharias gesagt. Wie weit war ›nicht viel weiter‹? Wohin waren sie gegangen? Die Erde drehte sich jetzt – diese waldbedeckten Berge, das Pflaster unter meinen Füßen, die Klosterwiesen und das Ackerland – , aber sie bewahrte ihr Geheimnis.
Um etwa neun Uhr brachen wir mit Ranovs Auto auf, Bruder Ivan saß auf dem Beifahrersitz und zeigte uns den Weg. Etwa zehn Kilometer fuhren wir am Fluss entlang, dann schien der Fluss zu verschwinden, und es ging weiter durch ein langes, trockenes Tal, das sich durch die Berge wand. Ich stieß Helen an, und sie sah mich fragend an. ›Helen, das Flusstal.‹
Ihre Miene hellte sich auf, und sie klopfte Ranov auf die Schulter. ›Fragen Sie Bruder Ivan, wohin der Fluss verschwunden ist. Haben wir ihn überquert?‹
Ranov sprach mit Bruder Ivan, ohne sich ihm zuzuwenden, und berichtete uns anschließend nach hinten: ›Er sagt, der Fluss ist hier ausgetrocknet. Hinter der letzten Brücke, über die wir gekommen sind, versickert er. Vor langer Zeit einmal floss er weiter, aber heute gibt es kein Wasser mehr in diesem Teil des Tals.‹ Helen und ich tauschten stumme Blicke. Vor uns am Ende des Tals sah ich einen zerklüfteten, allein stehenden Gipfel steil zwischen den Bergen aufragen. Sein Umriss glich dem zweier angelegter Flügel. An seinem Fuß, noch ein Stück entfernt, konnten wir die Türme einer kleinen Kirche erkennen. Helen griff nach meiner Hand.
Minuten später bogen wir auf einen Feldweg, der in die Berge führte, und folgten den Hinweisschildern zu einem Dorf namens Dimovo. Schließlich verengte sich der Weg, und wir erreichten die Kirche, wenn auch von Dimovo selbst nichts zu sehen war.
Die Kirche von Sveti Petko dem Märtyrer war sehr klein – eine verwitterte, stuckverzierte Kapelle – und stand allein auf einer Wiese, auf der später im Jahr sicher Heu gemacht wurde. Zwei knorrige Eichen bildeten über ihr ein Dach, und ein Friedhof schmiegte sich an sie, wie ich ihn noch nie gesehen hatte:
Bauerngräber, von denen einige noch aus dem achtzehnten Jahrhundert stammten, wie Ranov stolz bemerkte. ›Das ist die Tradition. Es gibt viele
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