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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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zurückzulegen. Helen zog ihre kleine Pistole hervor und überprüfte sie sorgfältig, trotz ihrer Erregung. ›Die Bibliothek‹, flüsterte sie. ›Wir müssen sie sofort finden. Hast du auch gerade etwas gehört?‹
    Ich nickte. ›Ich glaube ja, aber ich wüsste nicht zu sagen, woher das Geräusch kam.‹ Wir lauschten beide aufmerksam. Die Stille hing ungebrochen über uns. Helen tastete jetzt die Wände mit der Pistole in der Hand ab. Das Kerzenlicht war entmutigend schwach. Wir suchten und suchten, drückten und klopften. Es gab keine Nischen, keine vorstehenden Steine, keine möglichen Öffnungen, nichts, das verdächtig ausgesehen hätte.
    ›Es muss draußen fast dunkel sein‹, murmelte Helen.
    ›Ich weiß‹, sagte ich. ›Wir haben wahrscheinlich noch zehn Minuten, dann sollten wir nicht mehr hier sein, da bin ich sicher.‹ Wieder gingen wir durch den kleinen Raum und untersuchten jeden Zentimeter. Die Luft war kalt, besonders jetzt, da ich mein Jackett nicht mehr trug. Trotzdem rann mir der Schweiß den Rücken herunter. ›Vielleicht ist die Bibliothek in einem anderen Teil der Kirche oder in den Fundamenten.‹
    ›Sie muss völlig versteckt liegen, wahrscheinlich irgendwo unterirdisch, noch weiter unten‹, flüsterte Helen. ›Sonst hätte sie schon vor langer Zeit jemand gefunden. Aber wenn mein Vater in diesem Grab liegt…‹ Sie beendete den Satz nicht. Es war die Frage, die mich schon im ersten Moment des Schocks, als wir Rossi entdeckten, gequält hatte: Wo war nur Dracula?
    ›Gibt es hier denn nichts Ungewöhnliches?‹ Helen sah zu dem niedrigen Gewölbe über uns auf und versuchte es mit den Fingerspitzen zu erreichen.
    ›Ich sehe nichts.‹ Aber plötzlich ließ mich ein Gedanke eine Kerze vom Ständer nehmen und mich niederkauern. Helen folgte mir sofort.
    ›Ja‹, keuchte sie. Ich berührte den in die unterste Stufe eingemeißelten Drachen. Bei unserem ersten Besuch in der Krypta hatte ich mit meinem Finger darüber gestrichen, jetzt drückte ich mit meinem ganzen Gewicht dagegen. Er saß fest im Stein. Aber Helens feinfühlige Hände fuhren schon über die Steine daneben, und sie fand einen, der locker saß. Er ließ sich leicht aus der Lücke herausziehen, wo er wie ein Zahn neben dem Drachenrelief eingebettet gewesen war. Ich steckte meine Hand in die Höhlung und wedelte darin herum, fand aber nur Leere. Helen schob ihre hinein und langte hinter das Relief. ›Paul!‹, rief sie leise.
    Ich folgte ihrer Hand ins Dunkel. Da war zweifellos ein Griff, ein großer Griff aus Eisen, und als ich dagegendrückte, glitt der Stein mit dem Drachen widerstandslos aus seiner Position unter der Stufe heraus, ohne dass sich die anderen Steine um ihn herum oder auch die Stufe über ihm bewegten. Es war eine fein gemeißelte Arbeit, wie wir jetzt sahen, und der Eisengriff in Form eines gehörnten Tieres in der Rückseite diente wohl dazu, den Stein hinter sich zuzuziehen, wenn man die schmalen Steinstufen hinunterging, die sich nun vor uns auftaten. Helen nahm eine zweite Kerze, und ich griff nach den Streichhölzern. Wir krochen durch die Öffnung und nach unten. Plötzlich musste ich an Rossis mitgenommene, verschrammte Erscheinung und seine zerrissenen Kleider denken, und ich fragte mich, wie oft er durch diese Öffnung gezerrt worden war. Aber bald schon konnten wir aufrecht auf den Stufen stehen.
    Die Luft, die uns entgegenwehte, war äußerst kalt und feucht, und ich hatte Mühe, ein Zittern tief in mir unter Kontrolle zu bringen. Ich hielt Helen, die ebenfalls zitterte, fest gepackt, während wir den steilen Abstieg fortsetzten. Am Fuß von fünfzehn Stufen war ein Durchgang, höllisch dunkel; im Licht unserer Kerzen konnte ich eiserne Leuchter oben an den Wänden erkennen, als wäre er früher manchmal erleuchtet worden. Am Ende des Durchgangs – wieder schienen es mir ungefähr fünfzehn Schritte zu sein, ich zählte sie vorsichtig mit – befand sich eine Tür aus schwerem und eindeutig sehr altem Holz, die unten gesplittert war; und wieder diese unheimliche eiserne Klinke, diese Kreatur mit den langen Hörnern. Ich spürte mehr, als ich es sah, wie Helen ihre Pistole hob. Die Tür war fest geschlossen, aber als ich sie genauer untersuchte, bemerkte ich, dass auf unserer Seite ein Riegel vorgeschoben war. Ich hängte mich mit meinem ganzen Gewicht an ihn und zog die Tür dann langsam auf, wobei mir vor Angst die Knie weich wurden.
    Im Licht unserer Kerzen, so schwach es war, tat sich

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