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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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Gefühl, mein Verstand beginnt langsam zu verfallen. Sosehr ich mich auch bemühe, verliere ich doch jedes Gefühl für die Zeit und habe keinen Überblick mehr, was die Bibliothek angeht. Ich fühle mich nicht einfach schwach, sondern krank, und heute habe ich eine Empfindung an mir entdeckt, die mein Herz, oder was davon noch übrig ist, mit frischem Elend erfüllt. In einem schönen französischen Quartband aus Draculas beispiellosem Archiv mit Folterbüchern stieß ich auf den Plan für eine neue Maschine, die Köpfe in Sekundenschnelle vom Körper abtrennt. Das Ganze war mit einem Stich illustriert: den Teilen der Maschine und dem eleganten Mann, dessen theoretischer Kopf gerade von seinem theoretischen Körper abgetrennt worden war. Als ich mir den Plan ansah, verspürte ich nicht nur Absehen über den Zweck, nicht nur Verwunderung über den fabelhaften Zustand des Buches, sondern auch das plötzliche Verlangen, die wirkliche Szene zu erleben, das Rufen der Menge zu hören und zu sehen, wie das Blut über die Halskrause aus Spitze und Samtjacke spritzt. Jeder Historiker kennt das Verlangen, die Vergangenheit wirklich zu erleben, aber das war etwas Neues, eine andere Art Hunger. Ich warf das Buch zur Seite, legte meinen pochenden Kopf auf den Tisch und weinte zum ersten Mal seit Beginn meiner Gefangenschaft. Seit Jahren hatte ich nicht mehr geweint, tatsächlich nicht mehr seit dem Begräbnis meiner Mutter. Das Salz meiner Tränen tröstete mich ein wenig. Es war so normal.
     
     
    … Tag
    Das Ungeheuer schläft. Gestern hat Dracula den ganzen Tag nicht mit mir gesprochen und fragte nur einmal, wie es mit dem Katalogisieren voranginge, um anschließend für ein paar Minuten meine Arbeit zu begutachten. Ich bin zu müde, um mit meiner Aufgabe fortzufahren oder auch nur auf der Maschine zu schreiben. Ich werde mich ans Feuer setzen und versuchen, etwas von meinem alten Selbst zu sammeln.
     
     
    … Tag
    Letzte Nacht setzte er mich wieder ans Feuer, als führten wir noch immer zivilisierte Gespräche, und er erklärte mir, dass er die Bibliothek schon früher verlegen werde, früher, als er ursprünglich vorgehabt habe, weil sich eine Bedrohung nähere. »Das wird Ihre letzte Nacht, und dann lasse ich Sie hier eine Weile zurück«, sagte er, »aber Sie werden kommen, wenn ich nach Ihnen suche. Dann dürfen Sie Ihre Arbeit an einem anderen, sichereren Platz wieder aufnehmen. Später werden wir uns um Ihre Mission in der Welt kümmern: Überlegen Sie, wen Sie mir alles bringen werden, um uns bei unserer Aufgabe zu helfen. Fürs Erste jedoch werde ich Sie an einem Platz zurücklassen, wo Sie keiner finden kann.«
    Sein Lächeln ließ meinen Blick verschwimmen, und ich versuchte, ins Feuer zu sehen, statt ihn anzublicken. »Sie waren höchst starrköpfig. Vielleicht verkleide ich Sie als heilige Reliquie.« Ich verspürte keinerlei Wunsch, ihn zu fragen, was er damit meinte. So ist es also nur noch eine kurze Zeit, bis er mein sterbliches Dasein beendet. Ich brauche jetzt alle Energie, um mich für die letzten Momente zu stärken. Ich versuche, nicht an die Menschen zu denken, die ich geliebt habe, weil ich hoffe, so auch in meinem nächsten, verfluchten Zustand weniger leicht an sie zu denken. Diese Aufzeichnungen werde ich in dem schönsten Buch verstecken, das ich hier gefunden habe, einem der wenigen Bände der Bibliothek, die mir im Moment kein schreckliches Vergnügen bereiten. Dann werde ich das Buch verstecken, damit es nicht länger zu diesem Archiv gehört. Wenn ich mich nur dazulegen könnte, um mit ihm zu Staub zu zerfallen! Ich spüre, wie sich irgendwo da draußen in der Welt, wo Licht und Dunkel noch existieren, der Sonnenuntergang nähert, und ich will all meine schwindende Kraft darauf verwenden, bis zum letzten Moment ich selbst zu bleiben. Wenn etwas Gutes im Leben, in der Geschichte und in meiner eigenen Vergangenheit gibt, so rufe ich es jetzt an. Ich rufe danach mit all der Leidenschaft, mit der ich mein Leben gelebt habe.

 
    74
     
     
     
    Helen berührte die Stirn ihres Vaters mit zwei Fingern, als wollte sie ihm einen Segen erteilen. Sie kämpfte mit den Tränen. ›Wie können wir ihn hier herausholen? Ich will ihn begraben.‹
    ›Wir haben keine Zeit‹, sagte ich bitter. ›Er hätte es lieber, dass wir lebend hier herauskommen, da bin ich sicher.‹
    Ich zog mein Jackett aus, breitete es sanft über ihn und bedeckte auch sein Gesicht damit. Der Steindeckel war zu schwer, um ihn

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