Der Historiker
Lippen zuckten. »Zweifellos werden Sie hier sterben, Professor Rossi«, sagte er, als versuchte er, seine Stimme zu kontrollieren. »Sie werden diese Räume niemals lebend verlassen, obwohl Sie hinausgehen werden in ein neues Leben. Warum überlegen Sie es sich nicht noch einmal?«
»Nein«, sagte ich, so sanft ich konnte.
Er erhob sich, drohend, und lächelte. »Dann werden Sie gegen Ihren Willen für mich arbeiten«, sagte er. Vor meinen Augen wurde es dunkel, und ich hielt mich innerlich fest – an was? Meine Haut begann zu prickeln, und ich sah Sterne vor dem Hintergrund der dunklen Wände tanzen. Als er näher trat, sah ich sein wahres Gesicht, und der Anblick war so furchtbar, dass ich mich nicht an ihn erinnern kann – ich habe es versucht. Dann wusste ich für lange Zeit nichts mehr.
Ich erwachte in meinem Sarkophag, wieder im Dunkel, und dachte, es wäre wieder mein erster Tag, mein erstes Erwachen dort, bis ich begriff, dass ich genau wusste, wo ich war. Ich war sehr schwach, viel schwächer diesmal, und die Wunde an meinem Hals nässte und pochte. Ich hatte Blut verloren, aber nicht so viel, dass ich völlig gebrochen gewesen wäre. Nach einer Weile gelang es mir, mich zu bewegen und zitternd aus meinem Gefängnis zu klettern. Ich erinnerte mich an den Augenblick, in dem ich das Bewusstsein verloren hatte, und sah im Schein der verbliebenen Kerzen, dass Dracula wieder in seinem großen Sarkophag lag. Seine Augen waren offen, glasig, seine Lippen rot, die Hand schloss sich um den Dolch. Bis in die letzte Zelle meines Körpers und den letzten Winkel meiner Seele erfüllte mich Grausen, und ich wandte mich ab und kauerte mich ans Feuer, um die Mahlzeit einzunehmen, die dort für mich stand.
Offenbar will er mich erst nach und nach zerstören, vielleicht um mir bis zur letzten Minute die Wahl zu lassen, vor die er mich gestern Abend gestellt hat, damit ich ihm aus freien Stücken vollen Einsatz bringe. Ich habe nur noch ein Ziel – nein, zwei: Erstens, so viel wie möglich von mir, das intakt ist, in den Tod zu retten, in der Hoffnung, dass es vielleicht zu einem kleinen Teil angerechnet wird auf die schrecklichen Taten, die ich als Untoter begehen werde; zweitens, lange genug am Leben zu bleiben, um alles, was ich kann, auf diese Blätter zu schreiben, auch wenn sie irgendwann zu Staub zerfallen werden. Diese Ziele sind mein einziger Halt. Es ist ein Schicksal, das mir keine Tränen lässt.
Dritter Tag
Ich bin nicht länger sicher, welchen Tag wir haben. In mir wächst das Gefühl, dass bereits andere Tage verstrichen sind, dass ich einige Wochen geträumt habe und meine Entführung wohl schon vor einem Monat stattgefunden hat. Auf jeden Fall schreibe ich heute zum dritten Mal. Die Nacht habe ich damit verbracht, die Bibliothek zu studieren, nicht um Draculas Wünschen nachzukommen, sie für ihn zu katalogisieren, sondern um in Erfahrung zu bringen, was immer mir dienlich sein könnte – aber es ist hoffnungslos. Ich schreibe nur auf, dass ich entdeckt habe, dass Napoleon während seines ersten Jahres als Kaiser zwei seiner eigenen Generäle hat umbringen lassen, wovon ich sonst nirgends gelesen habe. Ich habe auch die kleine Arbeit der byzantinischen Historikerin Anna Komnena studiert, die den Titel Die vom Kaiser befohlenen Folterungen zum Wohle des Volkes trägt, wenn mich mein Griechisch nicht im Stich lässt. Dann habe ich einen wunderbar illustrierten Band mit Geheimlehren gefunden, vielleicht aus Persien, und zwar in der Abteilung Alchemie. In den Regalen mit der Sammlung über Ketzerlehren bin ich auf einen byzantinischen heiligen Johannes gestoßen, aber etwas stimmt mit dem Anfang des Textes nicht – es geht um die Finsternis, nicht das Licht. Ich werde mir das sorgfältig ansehen müssen. Dann habe ich ein englisches Buch von 1521 gefunden, das den Titel trägt: Die Philosophie des Ehrfurchtsgebietenen, ein Werk über die Karpaten, von dem ich gelesen habe, aber geglaubt hatte, es existiere nicht mehr.
Ich bin zu müde und zerschlagen, um diese Texte so zu studieren, wie ich es könnte – oder sollte – , aber wann immer ich etwas Neues, Seltsames entdecke, wende ich mich ihm mit einer Dringlichkeit zu, die in keinem Verhältnis zu meiner Hilflosigkeit hier steht. Jetzt muss ich wieder schlafen, ein wenig, während auch Dracula schläft, so dass ich meiner nächsten Prüfung etwas ausgeruhter entgegentreten kann, was immer auch passiert.
Vierter Tag?
Ich habe das
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