Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
Vom Netzwerk:
ein großer Raum auf. Nahe der Tür standen lange massive Tische und an den Wänden leere Bücherregale. Nach der Kälte des Durchgangs war die Luft hier drinnen erstaunlich trocken, als gäbe es eine geheime Ventilation oder der Raum wäre in eine geschützte Tiefe der Erde gegraben. Wir standen aneinander geklammert da und lauschten, aber es war kein Laut zu hören. Ich wünschte mir andächtig, dass wir hinter die Dunkelheit sehen könnten. Das Nächste, was in unseren Lichtschein fiel, war ein Kandelaber mit halb heruntergebrannten Kerzen, die ich alle anzündete. Hohe Schränke waren jetzt zu erkennen, und ich sah vorsichtig in einen hinein. Er war leer. ›Ist das die Bibliothek?‹, sagte ich. ›Hier ist nichts.‹
    Wir standen wieder still, lauschten, und Helens Pistole glänzte im Licht des Kandelabers. Ich dachte, dass ich ihr hätte anbieten sollen, die Pistole an mich zu nehmen und, wenn nötig, zu gebrauchen, aber ich hatte noch nie eine Waffe in der Hand gehalten und sie, das wusste ich, war eine ausgezeichnete Schützin. ›Sieh doch, Paul.‹ Sie zeigte mit der freien Hand vor sich hin, und ich sah, was ihre Aufmerksamkeit erregte.
    ›Helen‹, sagte ich, aber sie bewegte sich darauf zu. Eine Sekunde später erfasste mein Licht einen Tisch, der zuvor noch im Dunkel gewesen war, einen großen Steintisch. Aber es war kein Tisch, wie ich gleich darauf sah, sondern ein Altar – nein, auch kein Altar, sondern ein Sarkophag. Gleich daneben befand sich noch einer. War das hier einmal eine Verlängerung der Klosterkrypta gewesen, ein Ort, an dem die Äbte in Frieden ruhen konnten, geschützt vor byzantinischen Fackeln und osmanischen Katapulten? Dann sah ich, ein Stück nach hinten versetzt, den größten der Sarkophage. Auf der Längswand stand ein Wort in Stein gemeißelt: DRACULA. Helen hob ihre Pistole. Ich packte meinen Pflock. Sie trat vor, und ich blieb dicht bei ihr.
    In dem Moment hörten wir aus Richtung der Krypta eine Art Tumult und dann das Hallen von Schritten und sich vorschiebenden Körpern, und der Lärm erstickte fast das leise Geräusch im Dunkel hinter dem Sarkophag, das Rieseln trockener Erde. Wie ein einziges Wesen sprangen wir vor – der große Sarkophag hatte keinen Deckel und war leer. Alle drei waren leer. Und das Geräusch: Irgendwo vor uns in der Dunkelheit kroch eine kleine Kreatur durch Baumwurzeln nach oben.
    Helen feuerte ins Dunkel, und die Kugel schlug in Erde und Kiesel. Ich lief mit meinem Licht tiefer in den Raum hinein, aber da ging es nicht weiter. Die Bibliothek endete in ein paar Wurzeln, die vom Gewölbe herunterhingen. In der Nische in der Wand, wo einmal eine Ikone gestanden haben mochte, sah ich ein Rinnsal aus schwarzem Schleim auf den Steinen – Blut? Oder drang da Feuchtigkeit aus dem Boden?
    Die Tür hinter uns schlug auf, und wir fuhren herum, meine Hand auf Helens freiem Arm. Eine helle Laterne, Taschenlampen, eilende Gestalten kamen ins Licht unserer Kerzen. Jemand rief etwas. Es war Ranov, und bei ihm war eine große Gestalt, deren Schatten vorflog und uns bedeckte: Géza Jozsef, und gleich dahinter ein panischer Bruder Ivan. Ihm wiederum folgte ein drahtiger kleiner Bürokrat in einem dunklen Anzug, mit Hut und dunklem Schnurrbart. Dann erschien noch eine Gestalt, eine, die sich nur zögernd fortbewegte und deren Langsamkeit die übrigen bei jedem Schritt behindert haben musste: Stoichev. Sein Gesicht zeigte eine seltsame Mischung aus Furcht, Bedauern und Neugier, und er hatte eine Wunde auf der Wange. Der Blick aus seinen alten Augen traf sich einen langen traurigen Augenblick mit unserem, und er bewegte die Lippen, als danke er Gott, uns lebend zu finden.
    Géza und Ranov hatten uns im Bruchteil einer Sekunde gestellt. Ranov hielt eine Pistole auf mich gerichtet und Géza auf Helen, während der Mönch mit offenem Mund dabei stand und Stoichev hinter ihnen abwartete, ruhig und auf der Hut.
    Der Bürokrat in seinem dunklen Anzug hielt sich außerhalb des Lichts. ›Lassen Sie die Waffe fallen‹, befahl Ranov, und Helen gehorchte ihm wortlos. Ich legte den Arm um sie, allerdings langsam. Im flackernden Kerzenlicht wirkten ihre Gesichter mehr als bedrohlich, bis auf Stoichevs. Ich sah, dass er uns ein Lächeln schenken würde, besäße er nur den Mut dafür.
    ›Was zum Teufel machst du hier?‹, fragte Helen Géza, bevor ich sie stoppen konnte.
    ›Was zum Teufel machst du hier, meine Liebe‹, war seine ganze Antwort. Er wirkte größer denn je, war

Weitere Kostenlose Bücher