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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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Befehl aus, der Bruder Ivan erschauern ließ. In diesem Moment fiel das Licht von Ranovs Laterne in eine neue Richtung. Er hatte sie hierhin und dorthin gewendet, um die Tische zu untersuchen. Jetzt beleuchtete sie das Gesicht des dunkel gekleideten Bürokraten mit dem großen Hut, der schweigend neben Draculas leerem Sarkophag stand. Vielleicht hätte ich seinem Gesicht keine weitere Beachtung geschenkt, wäre der Ausdruck darauf nicht so merkwürdig gewesen – das war eine ganz persönliche Trauer, die da plötzlich im Licht der Laterne aufschien. Ich sah sein hageres Gesicht unter dem komischen Schnurrbart und ein bekanntes Glitzern in den Augen: ›Helen!‹, rief ich. ›Sieh doch!‹ Auch sie starrte den Mann an.
    ›Was?‹ Géza drehte sich augenblicklich um.
    ›Der Mann…‹ Helen war entsetzt. ›Der Mann da ist…‹
    ›Er ist ein Vampir‹, sagte ich tonlos. ›Er ist uns aus den Vereinigten Staaten gefolgt.‹ Ich hatte kaum zu sprechen begonnen, als die Kreatur auch schon die Flucht ergriff. Um nach draußen zu kommen, lief der Kerl direkt auf uns zu, lief in Géza hinein, der ihn zu halten versuchte, und drängte sich an Ranov vorbei. Ranov aber war schneller; er packte den Bibliothekar, sie stießen hart zusammen, und dann sprang Ranov mit einem Schrei nach hinten und der Bibliothekar war wieder frei. Ranov drehte sich und schoss auf den Fliehenden, der erst drei oder vier Schritte entfernt war. Der Schuss hielt den Mann jedoch nicht auf, Ranov hätte genauso gut in die Luft schießen können. Dann war der teuflische Bibliothekar verschwunden, und zwar so plötzlich, dass ich nicht sicher war, ob er tatsächlich den Durchgang erreicht oder sich vor unseren Augen in Luft aufgelöst hatte. Ranov lief ihm noch durch die Tür nach, kam aber gleich wieder zurück. Wir alle starrten ihn an. Sein Gesicht war weiß, und als er nach dem zerrissenen Stoff seines Jacketts griff, war bereits etwas Blut zwischen seinen Fingern. Nach einer langen Minute fand Ranov die Sprache wieder. ›Was zum Teufel bedeutet das alles?‹ Seine Stimme zitterte.
    Géza schüttelte den Kopf. ›Mein Gott‹, sagte er. ›Er hat Sie gebissen.‹ Er wich einen Schritt von Ranov zurück. ›Und ich war so oft allein mit ihm. Er sagte mir, er könne mir sagen, wo diese Amerikaner zu finden seien, aber er hat mir nie gesagt, dass…‹
    ›Natürlich hat er dir das nicht auf die Nase gebunden‹, sagte Helen verächtlich, obwohl ich versuchte, sie zu bremsen. ›Er wollte seinen Herrn finden, wollte uns folgen, und hat dich deshalb nicht umgebracht. So warst du ihm nützlicher. Hat er dir unsere Unterlagen gegeben?‹
    ›Halt den Mund!‹ Géza schien geneigt, sie zu schlagen, aber ich hörte die Furcht und Scheu in seiner Stimme und zog Helen langsam zur Seite.
    ›Kommen Sie.‹ Ranov fuchtelte wieder mit seiner Waffe vor uns herum, eine Hand auf der verwundeten Schulter. ›Sie haben uns sehr wenig geholfen. Ich will Sie so bald wie möglich in Sofia in ein Flugzeug steigen sehen. Sie haben Glück, dass wir nicht die Erlaubnis haben, Sie verschwinden zu lassen. Aber das könnte Unannehmlichkeiten nach sich ziehen.‹ Ich dachte schon, er wollte uns treten, so wie Géza dem Tisch einen Tritt versetzt hatte, aber stattdessen drehte er sich um und drängte uns aus der Bibliothek. Stoichev musste vorausgehen. Es gab mir einen Stich, als ich mir vorstellte, was der alte Mann während dieser Zwangsverfolgung hatte durchmachen müssen. Es war klar, dass Stoichev nicht gewollt hatte, dass man uns folgte. Das hatte ich mit dem ersten Blick in sein von Elend gezeichnetes Gesicht erkannt. War er zurück nach Sofia gekommen, bevor sie ihn gezwungen hatten, umzukehren und uns zu folgen? Ich hoffte, Stoichevs internationale Reputation würde ihn vor weiteren Repressalien schützen, wie es offenbar auch in der Vergangenheit gewesen war. Aber Ranov – das war das Schlimmste an allem. Ranov würde, infiziert, wie er nun war, seinen Dienst bei der Geheimpolizei wieder aufnehmen. Ich fragte mich, ob Géza etwas deswegen unternehmen würde, aber das Gesicht des Ungarn wirkte so abweisend, dass ich mich nicht traute, ihn darauf anzusprechen.
    Ein einziges Mal sah ich mich nach dem fürstlichen Sarkophag um, der hier fast fünfhundert Jahre lang gestanden hatte. Sein Bewohner konnte überall sein, auf dem Weg überallhin. Am Kopf der schmalen Treppe krochen wir einer nach dem anderen durch die Öffnung, und ich betete zu Gott, dass keine der

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