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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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Pistolen losging. In der Krypta sah ich etwas sehr Seltsames: Der Reliquienschrein des heiligen Petko stand offen auf seinem Sockel. Sie mussten Werkzeuge dabeigehabt haben, um ihn zu öffnen. Der Marmordeckel darunter lag jedoch an seinem Platz und war mit dem bestickten Stück Stoff behängt, als wäre nichts geschehen. Helen warf mir einen leeren Blick zu. Als wir an dem Reliquienschrein vorbeigingen, sah ich darin ein paar Knochen und einen polierten Schädel – alles, was von dem örtlichen Märtyrer geblieben war.
    Vor der Kirche, es war tiefste Nacht, stand ein Durcheinander von Autos und Menschen. Géza war offensichtlich mit Gefolge angereist. Zwei der Männer bewachten die Kirchentür. Da hinaus war Dracula sicher nicht geflüchtet, dachte ich. Die Berge türmten sich um uns auf, finsterer noch als der finsterste Himmel. Einige der Dorfbewohner mussten die Autos gehört haben und waren mit brennenden Fackeln zum Ort des Geschehens gekommen. Sie wichen zurück, als Ranov in ihre Richtung trat. Im Licht der Fackeln wirkten ihre Gesichter verzerrt, und sie starrten auf Ranovs zerrissenes und blutiges Jackett. Stoichev griff nach meinem Arm, er sprach in mein Ohr. ›Wir haben es geschlossen‹, flüsterte er.
    ›Was?‹ Ich lehnte mich näher zu ihm.
    ›Der Mönch und ich sind als Erste hinunter in die Krypta, während diese… diese Strolche die Kirche und den Wald nach Ihnen durchsuchten. Wir entdeckten den Mann in seinem Grab, nicht Dracula, und ich wusste, dass Sie da gewesen waren. Also haben wir es wieder geschlossen, und als die beiden nach unten kamen, haben sie nur den Schrein aufgebrochen. Sie waren derart wütend, dass ich schon dachte, sie würden die Knochen des armen alten Heiligen durch die Gegend werfen.‹ Bruder Ivan sah ziemlich stämmig aus, dennoch musste sich auch hinter Professor Stoichevs Gebrechlichkeit eine seltene Kraft verbergen. ›Aber wer war das in dem Grab darunter, wenn es nicht…?‹
    ›Es war Professor Rossi‹, flüsterte ich. Ranov öffnete die Autotüren und befahl uns einzusteigen.
    Stoichev sah mich schnell und viel sagend an. ›Es tut mir so Leid.‹
     
     
    So ließ ich meinen liebsten Freund in Bulgarien zurück, möge er dort in Frieden ruhen bis zum Jüngsten Tag.

 
    75
     
     
     
    Nach unserem Abenteuer in der Krypta war das Wohnzimmer der Boras der Himmel auf Erden. Es war eine unglaubliche Erleichterung, wieder dort zu sein. Es war plötzlich kühl geworden, obwohl es doch schon Juni war, und wir hielten Tassen mit heißem Tee in den Händen. Turgut strahlte uns von seinem Diwan aus an. Helen hatte an der Wohnungstür ihre Schuhe ausgezogen und war in die quastenbesetzten Hausschuhe geschlüpft, die Mrs Bora ihr gebracht hatte. Selim Aksoy war auch da, er saß ruhig in der Ecke, und Turgut Bora sorgte dafür, dass er und Mrs Bora alles übersetzt bekamen.
    ›Sind Sie sicher, dass das Grab leer war?‹ Turgut hatte die Frage bereits gestellt, schien aber unfähig, sie nicht noch einmal zu stellen.
    ›Ziemlich sicher.‹ Ich sah zu Helen hinüber. ›Was wir nicht wissen, ist, ob das Geräusch, das wir hörten, Dracula war, der auf irgendeinem Weg entkam. Es war Nacht, und er konnte sich leicht frei bewegen.‹
    ›Und konnte natürlich auch seine Gestalt verändern, wenn die Legende in dem Punkt Recht hat.‹ Turgut seufzte. ›Teufel noch eins! Sie waren sehr nahe daran, ihn zu bekommen, meine Freunde, näher als die Halbmond-Garde in fünf Jahrhunderten. Ich bin äußerst glücklich, dass Sie es überlebt haben, und doch bedauere ich außerordentlich, dass Sie ihn nicht zerstören konnten.‹
    ›Wohin, glauben Sie, ist er geflohen?‹ Helen beugte sich vor, ihre Augen waren tief dunkel.
    Turgut rieb sich das mächtige Kinn. ›Nun, meine Liebe, das kann ich nicht einmal erraten. Er vermag weit und schnell zu reisen, aber ich weiß nicht, wie weit er wirklich wollte. Er wird an einen anderen alten Ort gegangen sein, denke ich, in ein Versteck, das seit Jahrhunderten ungestört ist. Es muss ein Schlag für ihn sein, Sveti Georgi verloren zu haben, aber er wird wissen, dass dieser Ort nun lange Zeit überwacht wird. Ich würde meine rechte Hand dafür geben zu erfahren, ob er irgendwo in Bulgarien geblieben ist oder ob er das Land verlassen hat. Grenzen und Politik bedeuten ihm nicht viel, da bin ich sicher.‹ Turguts verärgertes Stirnrunzeln passte kaum zu seinem freundlichen Gesicht.
    ›Sie glauben nicht, dass er uns folgen könnte?‹, fragte

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