Der Historiker
Helen unumwunden, aber etwas daran, wie sie die Schultern angezogen hielt, ließ mich merken, wie viel sie diese einfache Frage kostete.
Turgut schüttelte den Kopf. ›Ich hoffe nicht, Madam Professor. Ich nehme doch an, dass er ein wenig Respekt vor Ihnen bekommen hat, wo Sie die Einzigen sind, die ihn bislang tatsächlich aufgespürt haben.‹
Helen schwieg, und mir missfiel der Zweifel in ihrem Gesicht. Selim Aksoy und Mrs Bora betrachteten sie mit besonderer Zuneigung, wie es mir vorkam. Vielleicht fragten sie sich, wie ich sie überhaupt in eine so gefährliche Situation hatte bringen können, selbst wenn es uns gelungen war, die Sache lebend zu überstehen.
Turgut wandte sich an mich. ›Und es tut mir sehr Leid wegen Ihres Freunds Rossi. Ich hätte ihn gerne kennen gelernt.‹
›Sie hätten einander gemocht, das weiß ich‹, sagte ich ernst und nahm Helens Hand. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, wann immer Rossis Name fiel. Sie sah zur Seite, als wollte sie für sich sein.
›Und auch Professor Stoichev hätte ich gerne getroffen.‹ Turgut seufzte wieder und stellte die Tasse auf den Messingtisch.
›Das wäre wunderbar gewesen‹, sagte ich und musste lächeln, als ich mir die beiden Gelehrten vorstellte, wie sie ihre Ergebnisse verglichen. ›Sie und Stoichev hätten einander das Osmanische Reich und den mittelalterlichen Balkan erklären können. Vielleicht ergibt sich ja noch einmal die Gelegenheit.‹
Turgut schüttelte den Kopf. ›Ich glaube nichts sagte er. Die Barrieren zwischen uns sind hoch und… stachlig… wie sie es zwischen Zar und Pascha waren. Aber sollten Sie je wieder mit ihm sprechen oder ihm schreiben, richten Sie ihm bitte meine besten Grüße aus.‹
›Das versprechen wir Ihnen gern.‹
Selim Aksoy wollte, dass uns Turgut eine Frage stellte, und Turgut hörte ihm ernst zu. ›Wir fragen uns‹, sagte er, ›ob Sie mitten in all der Gefahr und dem Durcheinander das Buch gesehen haben, das Professor Rossi beschreibt – eine Lebensbeschreibung des heiligen Georg, das war es doch? Haben die Bulgaren es mit zur Universität nach Sofia genommen?‹
Helens Lachen konnte überraschend mädchenhaft sein, wenn ihr etwas wirklich gefiel, und ich musste mich zurückhalten, ihr deswegen vor den anderen nicht vor Glück einen herzhaften Kuss zu geben. Seit wir Rossis Grab verlassen hatten, war kaum einmal ein Lächeln auf ihre Lippen gekommen. ›Es ist in meiner Aktentasche‹, sagte sie. ›Vorläufig.‹
Turgut blickte sie erstaunt an, und er brauchte eine Minute, um seine Pflichten als Übersetzer wieder aufzunehmen. ›Und wie ist es dort hineingekommen?‹
Helen blieb stumm und lächelte, deshalb übernahm ich die Erklärung. ›Ich habe selbst nicht mehr daran gedacht, bis wir zurück im Hotel in Sofia waren.‹ Nein, die ganze Wahrheit konnte ich ihnen nicht erzählen, also bekamen sie eine überarbeitete Version.
Die Wahrheit war, dass ich Helen in die Arme genommen hatte, als wir endlich zehn Minuten für uns in ihrem Hotelzimmer hatten. Ich küsste ihr kohlschwarzes Haar und drückte sie durch unsere verschmutzten Reisekleider hindurch an mich wie den zweiten Teil meines Selbst – Platons verlorene Hälfte, dachte ich –, und dabei fühlte ich nicht nur Erleichterung darüber, dass wir alles überlebt hatten und uns so umarmen konnten, genoss den Druck ihres Körpers und den Atem an meinem Hals, sondern spürte auch etwas Unerklärliches, etwas Sperriges, Hartes. Ich wich zurück und sah sie verblüfft an, aber sie lächelte nur trocken und legte erinnernd einen Finger an die Lippen: Wie wir beide wussten, wurden unsere Hotelzimmer wahrscheinlich abgehört.
Nach einer Sekunde legte sie meine Hände an die Knöpfe ihrer Bluse, die nach unseren Abenteuern ziemlich mitgenommen und schmutzig aussah. Ich knöpfte sie auf, ohne meinen Gedanken freien Lauf zu gewähren, und zog sie ihr aus. Ich habe bereits gesagt, dass die Frauen in jenen Tagen weit kompliziertere Unterkleider trugen, mit geheimen Haken, Ösen und seltsamen Verstecken – eine Art innere Rüstung. In ein großes Taschentuch gewickelt und warm an die Haut gedrückt, fand ich dort ein Buch, nicht den großen Band, den ich mir vorgestellt hatte, als Rossi uns von seiner Existenz erzählte, sondern ein Buch, das leicht in eine meiner Hände passte. Sein Einband bestand aus kunstvoll mit einem goldenen Muster verziertem Holz und Leder. Das Gold war mit Smaragden, Rubinen, Saphiren, Lapislazuli und winzigen
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