Der Historiker
Perlen besetzt – ein kleines Firmament aus Juwelen, alles dem Porträt des Heiligen in der Mitte zu Ehren. Seine edlen byzantinischen Züge wirkten wie vor ein paar Tagen gemalt, nicht vor Jahrhunderten, und seine weiten, traurigen, dem Drachen verzeihenden Augen schienen meinen zu folgen. Seine Brauen hoben sich in eleganten Bögen, die Nase war lang und gerade und der Mund traurig streng. Das Porträt hatte etwas Rundes, Volles, einen Realismus, den ich in der byzantinischen Kunst noch nicht gesehen hatte, und dieser Darstellung zufolge schien der Heilige römische Vorfahren zu haben. Wäre ich nicht bereits verliebt gewesen, hätte ich gesagt, das sei das schönste Gesicht, das ich je gesehen hatte, so menschlich und doch zugleich auch himmlisch, so himmlisch und doch zugleich auch menschlich war es. Am Halsausschnitt seiner Robe stand etwas kunstvoll mit Tinte geschrieben. ›Das ist griechisch‹, sagte Helen. Ihre Stimme war weniger als ein Flüstern, das direkt vor meinem Ohr schwebte. ›Sankt Georg.‹
Innen fanden sich kleine Pergamentblätter in Atem beraubend gutem Zustand, alle in feiner mittelalterlicher Handschrift geschrieben, ebenfalls auf Griechisch. Hier und da sah ich Seiten mit wunderbaren Illustrationen: der heilige Georg, wie er einem sich windenden Drachen die Lanze in den Leib stößt, während eine Gruppe Edelleute ihm dabei zusieht; der heilige Georg, wie er von Christus, der sich von seinem himmlischen Thron herab beugt, eine kleine goldene Krone erhält; der heilige Georg auf seinem Totenbett, beweint von rotflügeligen Engeln. All diese Illustrationen waren voller erstaunlicher kleiner Details. Helen nickte, zog mein Ohr wieder an ihren Mund und atmete kaum.
›Ich bin da keine Expertin‹, hauchte sie, ›aber ich glaube, es könnte für einen Kaiser von Konstantinopel gemacht worden sein – für welchen genau, muss sich noch herausstellen. Das hier ist das Siegel der Kaiser.‹ Tatsächlich war innen auf den Einband ein doppelköpfiger Adler gemalt, ein Vogel, der zurücksah in die erhabene byzantinische Vergangenheit und gleichzeitig voraus in eine grenzenlose Zukunft. Nur waren seine Augen nicht scharf genug gewesen, den Fall des Reiches durch einen ungläubigen Emporkömmling vorauszusehen.
›Das heißt, dass es wenigstens bis in die erste Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts zurückdatiert‹, hauchte ich. ›In die Zeit vor der Eroberung.‹
›Oh, ich denke, es ist viel älter‹, flüsterte Helen und berührte vorsichtig das Siegel. ›Mein Vater… mein Vater hat gesagt, es ist sehr alt. Und es trägt den Namen Constantinus Porphyrogenitus. Er regierte in der‹ – sie durchforstete die Zahlen in ihrem Kopf –, ›in der ersten Hälfte des zehnten Jahrhunderts, noch bevor das Bachkovski manastir gegründet wurde. Der Adler muss später hinzugefügt worden sein.‹
Ich atmete die Worte kaum heraus. ›Du meinst, es ist älter als tausend Jahre?‹ Ich hielt das Buch vorsichtig in Händen und setzte mich neben Helen auf die Seite ihres Betts. Beide ließen wir keinen Laut hören. Wir sprachen mehr oder weniger mit unseren Augen. ›Es ist in fast perfektem Zustand. Und du willst solch einen Schatz aus Bulgarien herausschmuggeln, Helen?‹, sagte ich ihr mit einem Blick. ›Du musst verrückt sein. Gehört es nicht dem bulgarischen Volk?‹
Sie küsste mich, nahm mir das Buch aus den Händen und schlug es vorne auf. ›Es ist ein Geschenk meines Vaters‹, wisperte sie. Die Innenseite des vorderen Buchdeckels bedeckte ein tiefes ledernes Fach, und sie fasste vorsichtig hinein. ›Ich habe gewartet, damit wir zusammen hineinsehen können.‹ Sie zog einen Stapel dünnes, äußerst eng mit der Schreibmaschine beschriebenes Papier heraus. Schweigend lasen wir zusammen Rossis schmerzreiches Tagebuch. Als wir damit fertig waren, blieben wir stumm, obwohl uns beiden die Tränen herunterliefen. Schließlich wickelte Helen das Buch wieder in ihr Taschentuch ein und steckte es vorsichtig zurück in sein Versteck auf ihrer Haut.
Turgut lächelte, als ich die verkürzte Version der Geschichte beendet hatte. ›Aber es gibt noch mehr, das ich Ihnen sagen muss, und es ist sehr wichtig‹, fügte ich dann an und beschrieb Rossis schreckliche Gefangenschaft in der Bibliothek. Turgut hörte mit unbewegtem, ernstem Gesicht zu, und als ich auf die Tatsache kam, dass Dracula um das Fortbestehen der Garde wusste, die der Sultan zu seiner Verfolgung ins Leben gerufen hatte, holte Turgut
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