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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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herkommen. Die Franzosen hatten die Polizei in ganz Europa alarmiert. Wenn Helen noch lebte – sie sagten das tröstend –, würde sie jemand finden. Am Ende gab ich nach, aber nicht wegen dieser Versicherungen, sondern wegen des Waldes, der meteorischen Schroffheit der Felsen und der Dichte des Unterholzes, das mir Hosen und Jacken zerriss, wenn ich mich hindurchkämpfte; wegen der schrecklichen Wucht und Größe der Bäume und der Stille, die mich umfing, sobald ich innehielt und ein paar Minuten ausruhte.
    Bevor wir abreisten, bat ich den Abt, für Helen an der Stelle, wo sie gesprungen war, einen Segen zu sprechen. Er machte eine Messe daraus, versammelte die Mönche um sich und hielt ein rituelles Objekt nach dem anderen in den sich weit öffnenden Raum hinaus, in dem sich auch ihr Gesang auflöste. Mein Vater und meine Mutter standen neben mir, Mutter wischte sich die Tränen ab, und du zappeltest in meinen Armen. Ich achtete auf kaum etwas um mich herum und hielt dich fest an mich gedrückt.
    Fast hatte ich in diesen Wochen vergessen, wie weich dein dunkles Haar war und wie viel Kraft in deinen protestierenden Beinchen steckte. Bei allem, was passiert war: Du lebtest. Ich spürte deinen Atem in meinem Gesicht, und du legtest mir freundschaftlich den Arm um den Hals. Als mich ein Schluchzer schüttelte, packtest du mein Haar und zogst mich am Ohr. Ich drückte dich an mich und schwor zu versuchen, wieder ein Stück vom Leben zu fassen zu bekommen, wie es auch aussehen mochte.

 
    78
     
     
     
    Barley und ich sahen uns über die Postkarten meiner Mutter hinweg an. Wie die Briefe meines Vaters brachen sie ab, ohne eine Erklärung dafür zu geben, was in diesem Moment vorging. Die Hauptsache jedoch waren – und das hatte sich in mein Hirn gebrannt – die Daten! Sie hatte die Karten nach ihrem Tod geschrieben.
    »Er ist zum Kloster«, sagte ich.
    »Ja«, sagte Barley. Ich schob die Postkarten zusammen und legte sie auf die Marmorplatte des Frisiertischs.
    »Gehen wir«, sagte ich. Ich sah in meine Handtasche, nahm den kleinen Silberdolch in seinem Futteral heraus und steckte ihn vorsichtig ein.
    Barley lehnte sich zu mir herüber und gab mir einen Kuss auf die Wange. »Gehen wir«, sagte er.
     
     
    Die Straße nach Saint-Matthieu war staubig und länger, als ich sie in Erinnerung hatte, und auch jetzt, am späten Nachmittag, war es immer noch heiß. Taxis gab es keine in Les Bains – wenigstens hatten wir keine entdeckt –, also waren wir zu Fuß losmarschiert und liefen durch hügeliges Ackerland, bis wir an den Rand des Waldes kamen. Von hier begann die Straße hinaufzuführen. Oliven, Fichten und vor allem die alles überragenden Eichen gaben uns das Gefühl, in einer Kathedrale zu sein. Es war schattig und kühl, und wir senkten die Stimmen, wobei wir sowieso nicht viel sagten. Trotz all meiner Nervosität war ich hungrig. Wir hatten nicht einmal auf den Kaffee vom maître gewartet.
    Barley nahm seine Kappe ab und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
    »So einen Sturz hätte niemand überleben können«, sagte ich trotz des Kloßes in meinem Hals.
    »Nein.«
    »Mein Vater hat sich nie gefragt, wenigstens nicht in seinen Briefen, ob sie jemand gestoßen haben könnte.«
    »Das stimmt«, sagte Barley und setzte seine Kappe wieder auf.
    Ich schwieg eine Weile. Der Weg war hier noch befestigt, und unsere Füße auf dem Pflaster verursachten das einzige Geräusch. Ich wollte es nicht sagen, aber es beschäftigte mich. »Professor Rossi schreibt, dass ein Selbstmörder Gefahr läuft… ein… ein…«
    »Ich erinnere mich«, sagte Barley einfach nur. Ich wünschte, ich hätte nichts gesagt. Der Weg schraubte sich nach oben. »Vielleicht kommt doch noch jemand mit einem Auto«, fügte er noch hinzu.
    Aber es kam kein Auto, und wir gingen schneller und schneller, so dass wir bald nur noch keuchten und nicht mehr redeten. Die aufragenden Klostermauern überraschten mich, als wir an der letzten Biegung aus dem Wald kamen. Ich erinnerte mich nicht mehr an diese Biegung oder die plötzliche Öffnung zum Gipfel des Berges, und wie der Abend hier oben wirkte. Selbst an den schmutzigen kleinen Platz, auf dem heute keine Autos standen, erinnerte ich mich kaum. Wo waren die Touristen?, überlegte ich. Augenblicke später waren wir nahe genug, um das Schild lesen zu können: »Bauarbeiten – in diesem Monat keine Besichtigungsmöglichkeiten. «
    Das genügte nicht, um uns aufzuhalten. »Komm«, sagte ich zu

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