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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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Barley. Er nahm meine Hand, und ich war so froh darüber. Ich zitterte.
    Die Mauer um das Tor herum war mit Gerüsten zugestellt. Ein kleiner fahrbarer Mischer – Zement?, hier? – stand auf unserem Pfad. Die hölzerne zweiflügelige Tür war geschlossen, aber nicht verschlossen, wie sich herausstellte, als wir vorsichtig den eisernen Ring des Türklopfers zu bewegen versuchten. Ich wollte nicht unberechtigt ins Kloster eindringen; und mir gefiel auch nicht, dass nirgends ein Zeichen von meinem Vater zu entdecken war. Vielleicht war er immer noch unten in Les Bains. Oder an sonst einem Ort. Konnte es sein, dass er wie vor Jahren wieder den Fuß des Kliffs absuchte, weit unter uns und für uns unsichtbar? Ich fing an, unseren spontanen Entschluss zu bedauern, gleich zum Kloster hinaufzugehen. Dazu kam, dass die Sonne hinter den Bergen zu versinken begann. Sie schob sich bereits hinter die höchsten Gipfel, obwohl der eigentliche Sonnenuntergang wohl erst in einer Stunde stattfand. Der Wald, aus dem wir gerade gekommen waren, lag schon in tiefem Dämmerlicht, und bald würden auch die letzten Farben des Tages von den Klostermauern verschwunden sein.
    Wir gingen hinein und vorsichtig hinauf in den Hof und den Kreuzgang. Der rote Marmorbrunnen plätscherte hörbar. Da waren die zerbrechlich wirkenden, wie Korkenzieher aussehenden Säulen, an die ich mich erinnerte, der Kreuzgang und der Rosengarten. Das goldene Licht war verschwunden, an seine Stelle waren Schatten aus dunkler Umbra getreten. Niemand war zu sehen. »Denkst du, wir sollten zurück nach Les Bains gehen?«, flüsterte ich Barley zu.
    Er schien gerade antworten zu wollen, als wir etwas hörten – Gesang, der aus der Kirche auf der anderen Seite des Kreuzgangs klang. Die Tür war geschlossen, aber wir nahmen an, dass dort eine Messe gefeiert wurde. Jetzt war es wieder still. »Die sind alle da drin«, sagte Barley. »Vielleicht auch dein Vater.«
    Ich bezweifelte das. »Wenn er hier ist, dann ist er wahrscheinlich hinunter in die… « Ich hielt inne und sah mich um. Seit meinem Besuch hier mit meinem Vater, meinem zweiten Besuch, wie ich jetzt wusste, waren fast zwei Jahre vergangen, und ich konnte mich nicht gleich erinnern, wo es in die Krypta ging. Plötzlich jedoch sah ich vor mir den Eingang, als hätte er sich unbemerkt aufgetan.
    Barley und ich blickten zur Kirche hinüber, deren Tür aber fest geschlossen blieb. In stummem Einverständnis schlichen wir zum Eingang der Krypta. Einen Moment lang standen wir unter dem Blick der erstarrten Kreaturen rings um die dunkle Öffnung. Ich sah nur die Finsternis vor mir, in die wir würden hinabsteigen müssen. Mein Herz zog sich zusammen. Dann aber dachte ich daran, dass mein Vater da unten sein konnte und vielleicht in schrecklichen Schwierigkeiten war. Barley hielt noch immer meine Hand, schlaksig und kühn stand er neben mir. Fast rechnete ich damit, dass er etwas über die »komischen Dinge« murmeln würde, in die meine Familie hineinschlitterte, aber er stand angespannt da, bereit wie ich für das, was kommen würde. »Wir haben kein Licht«, flüsterte er.
    »Nun, aus der Kirche können wir keine Kerze holen«, sagte ich unnötigerweise.
    »Wenigstens habe ich mein Feuerzeug dabei.« Barley zog es aus seiner Tasche. Ich hatte nicht gewusst, dass er rauchte. Er machte es kurz an, hielt es über die Stufen, und zusammen stiegen wir in die Dunkelheit hinunter.
    Erst war es wirklich finster, und wir tasteten uns die steilen, uralten Stufen hinunter, aber dann sah ich in der Tiefe des Gewölbes ein Licht flackern – nicht Barleys Feuerzeug, das er alle paar Sekunden wieder kurz anmachte. Ich hatte fürchterliche Angst. Dieses flackernde, unheimliche Schatten werfende Licht war irgendwie schlimmer für mich als die Dunkelheit. Barley hielt meine Hand so fest gepackt, dass ich das Gefühl hatte, alles Leben entwiche aus ihr. Unten wand sich die Treppe, und als wir die letzten Stufen erreichten, musste ich daran denken, wie mein Vater mir gesagt hatte, das hier unten sei das Schiff von der ersten Kirche des Klosters gewesen. Da vorn stand der große steinerne Sarkophag des Abts. Da war das dunkle, in den Stein der Apsis gemeißelte Kreuz, das niedrige Gewölbe über uns, eines der ältesten Beispiele romanischer Architektur in Europa.
    Das alles nahm ich aber nur am Rande wahr, denn genau in diesem Augenblick löste sich ein Schatten auf der anderen Seite des Sarkophags aus den tieferen Schatten rundum. Es

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