0951 - Die Exorzistin
Die Augen hielt sie weit offen, doch sie sah kaum etwas. Es war einfach zu finster in ihrem Zimmer, dem neuen Zimmer, einem Zuhause, das nur als Übergang diente, bis für sie ein Platz im Heim gefunden war. Seit einigen Tagen war Marion eine Waise, und der Gedanke an den Tod ihrer Mutter ging ihr nicht aus dem Sinn. Marion hatte sich vorgenommen, in dieser Nacht nicht mehr zu weinen, obwohl die letzten Tage sehr schlimm gewesen waren, doch daran wollte sie nicht mehr denken.
Durch die Nase holte sie Luft. Dabei bewegte sie ihren Kopf, um sich in ihrem neuen Zimmer umsehen zu können. Vor kurzem noch hatte sie geschlafen und von ihrem eigentlichen Zuhause geträumt, aber das war vorbei. Jetzt, nach dem Erwachen, hatte die brutale Wirklichkeit sie zurückgeholt.
Marion blinzelte. Sie konnte das Rundbogenfenster sehen, das viel schmaler war, als das in ihrem ehemaligen Zuhause. Es fehlten noch die Gitter außen, dann wäre die Zelle perfekt gewesen, denn dick genug waren die Mauern des Nonnenklosters, in dem sie zunächst bleiben sollte.
Warum bin ich wach geworden? Sie hatte einen schönen Traum gehabt, der nicht mit ihrer verstorbenen Mutter zu tun gehabt hatte. Es war so schrecklich gewesen, trotz der beiden Männer, die John Sinclair und Suko heißen. Sie hatten sich wirklich um sie gekümmert, aber eine Mutter konnten sie natürlich nicht ersetzen.
Die lag jetzt im Sarg. Und dieser Sarg war in die kalte Graberde hineingelassen worden, wobei Marion als letzten Gruß eine dunkelrote Rose auf den Deckel gelegt hatte.
Nein, diese schlimme Erinnerung war in den letzten Stunden verblaßt, dennoch fürchtete sich Marion, und kalte Schauer rannen ihr über den Rücken.
Wieder mußte sie blinzeln. Das Fenster, vor dem die kalte Nacht lauerte, sah verschwommen aus.
Auch durch das Blinzeln wurde der Ausschnitt nicht klarer, aber erst jetzt kam dem zwölfjährigen Kind der Gedanke, daß es seine Brille abgelegt hatte.
Neben dem einfachen Bett stand ein Nachttisch. Wenn sie nicht alles täuschte, hatte sie die Brille darauf abgelegt. Im Dunkeln tastete sie danach, fand die Brille und setzte sie auf.
Jetzt konnte sie besser sehen. Zwar blieb die Dunkelheit bestehen, aber die Umrisse des Fensters traten schärfer hervor. Nur wußte sie noch immer nicht, weshalb sie erwacht war. Etwas mußte sie schon tief im Unterbewußtsein gewarnt haben.
Andere Mädchen wären vielleicht eingeschlafen und hätten sich zuvor die Decke über den Kopf gezogen, nicht aber Marion Bates. Sie blieb wach, denn sie hatte in der Vergangenheit so viele unglaubliche Dinge erlebt, daß sie schon jetzt für ihr Leben gezeichnet war. Da brauchte sie nur an ihre geheimnisvolle Stiefschwester Caroline zu denken, die tot gewesen war und trotzdem lebte, nun aber in der Welt der Geister verschwunden war.
Man hatte ihr alles gelassen. Die Schwestern waren gut zu ihr gewesen, sehr freundlich, und sie hatten sich rührend um sie gekümmert. Auch die Uhr klebte noch an ihrem linken Handgelenk fest.
Sie klebte wirklich, denn auf der Haut hatte sich ein dünner Schweißfilm gebildet.
Mitternacht war seit drei Minuten vorbei. Und bei dem Wort Mitternacht fiel ihr der Begriff Geisterstunde ein. In dieser Nacht kamen die Geister aus ihrer Welt hervor, um die Menschen zu besuchen. Ob sich vielleicht, Caroline als Geist auf den Weg gemacht hatte, um ihr etwas mitzuteilen und sie zu beruhigen. Marion wußte es nicht. Sie wollte auch nicht daran denken, daß sich Carolines Stimme möglicherweise aus einer unendlichen Ferne wieder gemeldet hatte.
Es mußte einfach einen anderen Grund gehabt haben. Da Marion ein aufgewecktes und neugieriges Mädchen war - sie hätte dies auch nicht im Kloster abgelegt -, stand sie plötzlich auf, als hätte ihr jemand einen kräftigen Schwung versetzt.
Vor dem Bett blieb sie stehen. Sie trug den wollenen Winterschlafanzug, den zog sie auch nicht aus, als sie zu ihrem Koffer schlich und den Deckel anhob.
Sie hatte das Gepäckstück neben den kleinen Schrank gestellt, in direkter Nähe zu dem kleinen Marienaltar und dem darüber hängenden Kreuz. Vor dem Koffer kniete sie nieder. Ihre Hände wühlten für einen Augenblick in den Sachen herum, und schließlich hatte sie das gefunden, was sie brauchte.
Über die Schlafanzughose streifte sie die blaue Winterjeans. Sie zog auch den dicken, rostfarbenen Pullover an, rückte ihre Brille wieder zurecht und dachte an den gefütterten Anorak, der nicht im Koffer lag, sondern an einem
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