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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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war ein Mann mit einer Laterne. Mein Vater. Sein Gesicht sah im tanzenden Licht seiner Laterne wie verwüstet aus. Er erkannte uns in dem Moment, in dem wir ihn erkannten, denke ich. »Jesus Christus!« Wir starrten einander an. »Was machst du hier?«, fragte er mit leiser Stimme und sah von mir zu Barley, wobei er die Laterne in die Höhe hielt. Sein Ton war heftig – voller Zorn, Angst und Liebe. Ich ließ Barleys Hand los und lief zu ihm um den Sarkophag, und er nahm mich in die Arme. »Jesus Christus«, sagte er noch einmal und strich mir eine Sekunde lang über das Haar. »Das hier ist der letzte Ort, an dem du sein solltest.«
    »Wir haben das Kapitel im Archiv in Oxford gelesen«, flüsterte ich. »Ich hatte Angst, du wärest…« Ich zitterte am ganzen Leib und konnte meinen Satz nicht beenden. Mein Vater lebte und schien er selbst zu sein. Endlich hatten wir ihn gefunden.
    »Geht hinaus«, sagte er und packte mich noch fester. »Nein. Es ist zu spät, ich will nicht, dass ihr da draußen allein seid. Wir haben noch ein paar Minuten, bevor die Sonne untergeht. Hier« – er hielt mir die Laterne hin –, »nimm die, und du« – das galt Barley – »hilf mir mit dem Deckel.« Barley trat sofort zu uns, obwohl mir auch seine Knie zu zittern schienen, und er half meinem Vater, langsam den schweren Deckel von dem großen Sarkophag zu schieben. In der Düsternis sah ich, dass mein Vater einen langen Pflock gegen die Wand gelehnt hatte. Er schien auf den Anblick eines lange verfolgten Schreckens in dem Steinsarg gefasst zu sein, aber nicht auf das, was er nun tatsächlich sah. Ich hob die Laterne für ihn, und zusammen blickten wir in die Leere und den aufgewirbelten Staub. »Oh Gott«, sagte er. Da war ein Ton in seiner Stimme, den ich nie zuvor darin gehört hatte, ein Ton völliger Verzweiflung, und ich dachte, dass er schon einmal in diese Leere geblickt hatte. Er stolperte vorwärts, und ich hörte, wie der Pflock auf den Steinboden schlug. Ich glaubte, er würde in Tränen ausbrechen, sich die Haare raufen und über das leere Grab beugen, aber er war wie erstarrt in seiner Trauer. »Gott«, sagte er wieder und flüsterte: »Ich dachte, ich hätte den richtigen Ort, die richtige Zeit, endlich… dachte ich…«
    Er verstummte, denn in diesem Augenblick trat aus dem Schatten des uralten Seitenschiffs, wohin kein Licht drang, eine Gestalt, die anders war als alles, was jeder von uns je in seinem Leben gesehen hatte. Diese Gestalt hatte eine solch unerhörte Präsenz, dass ich, selbst wenn sich mein Hals nicht gleich zugezogen hätte, auf jeden Fall außer Stande gewesen wäre, auch nur einen Ton herauszubringen. Meine Laterne beleuchtete seine Füße und Beine, einen Arm und eine Schulter, aber nicht das im Schatten liegende Gesicht, und ich hatte viel zu viel Angst, sie hochzuheben. Ich drückte mich an meinen Vater, genau wie Barley, so dass wir alle mehr oder weniger geschützt hinter dem leeren Sarkophag standen.
    Die Gestalt trat näher und blieb dann stehen, das Gesicht noch immer im Schatten. Ich konnte jetzt erkennen, dass es ein Mann war, aber er bewegte sich nicht wie ein menschliches Wesen. Seine Füße steckten in engen schwarzen Stiefeln, die unbeschreiblich anders waren als alle Stiefel, die ich je gesehen hatte, und bei jedem seiner Schritte über den Steinboden machten sie ein leises, gedämpftes Geräusch. Um den Körper des Mannes fiel ein Umhang oder vielleicht auch nur ein größerer Schatten, und er hatte kräftige, in dunklen Samt gekleidete Beine. Er war nicht so groß wie mein Vater, aber die Schultern unter seinem schweren Mantel waren breit, und etwas an seinem düsteren Umriss erweckte den Eindruck, er wäre weit größer. Der Mantel musste eine Kapuze haben, denn das Gesicht des Mannes war immer noch ein einziger Schatten. Nach den ersten entsetzlichen Sekunden sah ich seine Hände, knochenweiß vor seiner dunklen Kleidung, und an einem der Finger steckte ein juwelenbesetzter Ring.
    Er war so real und so dicht bei uns, dass ich keine Luft bekam, und ich hatte das Gefühl, wenn ich mich nur überwinden könnte, näher zu ihm zu treten, dass ich dann auch wieder atmen könnte. So schob ich mich ein wenig vor. Ich konnte den Silberdolch in meiner Tasche spüren, aber nichts hätte mich dazu bringen können, ihn herauszuziehen. An der Stelle, wo sein Gesicht sein musste, glitzerte etwas – rote Augen? Zähne? ein Lächeln? –, und dann sprach er in einem Strom von Worten. Noch nie

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