Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
Vom Netzwerk:
hatte ich einen solchen Klang vernommen, solch ein gutturales Wörterrauschen, in dem mehrere Sprachen gleichzeitig vereint zu sein schienen, das aber vielleicht auch nur eine fremde Sprache war, die ich noch nie gehört hatte. Nach einer kleinen Weile jedoch löste sich das Rauschen in Worte auf, die ich verstehen konnte, und ich hatte das Gefühl, dass mein Blut die Worte erkannte, nicht mein Gehör.
    Guten Abend. Ich gratuliere Ihnen.
    Das schien meinen Vater zurück ins Leben zu bringen. Ich weiß nicht, woher er die Kraft nahm, zu sprechen. »Wo ist sie?«, rief er. Seine Stimme bebte vor Angst und Zorn.
    Sie sind ein bemerkenswerter Gelehrter.
    Ohne dass ich es gewollt hätte, schien sich mein Körper in diesem Moment aus eigenem Entschluss leicht in die Richtung des Mannes zu bewegen. Mein Vater hob noch in derselben Sekunde die Hand und packte meinen Arm so fest, dass die Laterne hin und her schwang und schreckliche Schatten und Lichter um uns herumwirbeln ließ. In diesem Lichterspiel sah ich auch etwas von Draculas Gesicht, den großen dunklen Schnurrbart und ein Stück Wange, das wie nackter Knochen wirkte.
    Sie sind der Entschlossenste von allen. Kommen Sie mit mir, und ich schenke Ihnen das Wissen von zehntausend Leben.
    Ich weiß heute noch nicht, wie ich ihn verstehen konnte, aber ich dachte, dass er nach meinem Vater rief. »Nein!«, schrie ich. Ich hatte so fürchterliche Angst, weil ich tatsächlich zu diesem Wesen gesprochen hatte, dass ich spürte, wie mir kurzzeitig das Bewusstsein zu schwinden begann. Dabei hatte ich das Gefühl, dass die Gestalt dort vor uns lächelte, obwohl das Gesicht längst wieder im Dunkel lag.
    Kommen Sie mit mir oder geben Sie mir Ihre Tochter.
    »Was?«, fragte mein Vater mich fast unhörbar, und jetzt begriff ich, dass er Draculas Worte nicht verstehen konnte, vielleicht konnte er ihn nicht einmal hören. Mein Vater antwortete auf mein Schreien.
    Die Gestalt schien eine Weile schweigend nachzudenken. Sie schob ihre seltsamen Stiefel auf dem steinernen Boden vor, und ihr Körper in den alten Kleidern hatte dabei nicht nur etwas Grausiges, sondern auch etwas Anmutiges, wie ein altes Gewand der Macht.
    Ich habe lange auf einen Gelehrten mit Ihren Gaben gewartet.
    Die Stimme klang jetzt weich und unendlich gefährlich. Wir standen in einer Dunkelheit, die von dieser finsteren Gestalt auszugehen schien.
    Kommen Sie aus freiem Willen mit mir.
    Mein Vater schien sich ein wenig vorzubeugen, während er immer noch meinen Arm gefasst hielt. Was er nicht verstehen konnte, vermochte er offenbar zu fühlen. Draculas Schulter zuckte. Er verlagerte sein Gewicht von einem Bein auf das andere. Die Anwesenheit seines Körpers war wie die Anwesenheit des Todes, und doch lebte er und bewegte sich.
    Lassen Sie mich nicht warten. Wenn Sie nicht von sich aus kommen, werde ich Sie holen.
    Mein Vater schien jetzt seine gesamte Kraft zusammenzunehmen. »Wo ist sie?«, schrie er. »Wo ist Helen?«
    Die Gestalt vor uns wurde größer, und ich sah das zornige Aufleuchten von Zähnen, Knochen, Augen, den wieder auf sein Gesicht fallenden Schatten der Kapuze, die unmenschliche Hand, die sie am Rande des Lichts gepackt hielt. Mit einem Mal hatte ich das fürchterliche Gefühl, dass sich da ein Tier zum Sprung auf uns bereit machte. Aber dann hörte ich einen Tritt auf der Treppe hinter ihm, eine schnelle Bewegung, die wir als Luftzug wahrnahmen, denn zu sehen war nichts. Mit einem Schrei, der mir von außerhalb meines Körpers zu kommen schien, hob ich die Laterne, und ich sah in Draculas Gesicht, das ich nie vergessen werde, und dann, zu meinem völligen Erstaunen, sah ich eine weitere Gestalt direkt hinter ihm. Diese zweite Person war offenbar gerade erst die Treppe heruntergekommen, ein dunkler, unvollständiger Schemen wie Dracula, aber massiger, der Umriss eines lebendigen Mannes. Dieser Mann bewegte sich schnell, und er hatte etwas Helles in der erhobenen Hand. Aber Dracula hatte seine Anwesenheit gespürt, drehte sich mit ausgestrecktem Arm und stieß den Mann zur Seite. Draculas Kraft musste außerordentlich sein, denn schon im nächsten Augenblick befand sich der schwere Körper des Mannes an der Wand der Krypta. Wir hörten einen dumpfen Schlag, ein Stöhnen. Dracula wandte sich mit einer Art schrecklicher Verstörung hierhin und dorthin, erst zu uns, dann in Richtung des stöhnenden Mannes.
    Wieder waren Schritte auf der Treppe zu hören, leichtere diesmal, begleitet vom Lichtkegel einer

Weitere Kostenlose Bücher