Der Historiker
Broschüren an die Touristen. »Wie ich dir gesagt habe, das Kloster ist noch in Betrieb«, sagte mein Vater ohne besondere Betonung. Er hatte seine Sonnenbrille aufgesetzt, obwohl die Klostermauern tiefe Schatten warfen. »Sie halten die Besucherzahl niedrig, indem sie die Leute nur für ein paar Stunden am Tag einlassen.« Er lächelte den Mönch an, als wir uns ihm näherten, dann streckte er die Hand nach einer der Broschüren aus. »Vielen Dank, uns reicht eine«, sagte er höflich auf Französisch. Und mit der intuitiven Klarheit, mit der Kinder ihre Eltern sehen, begriff ich nun endgültig, dass er diesen Ort nicht nur schon einmal mit der Kamera in der Hand besucht hatte. Auch wenn er alle kunstgeschichtlichen Details aus seinem Fremdenführer hatte, er war hier nicht nur als Tourist gewesen. Hier musste ihm, da war ich sicher, etwas passiert sein.
Mein zweiter Eindruck war so flüchtig wie mein erster, aber schärfer: Als er die Broschüre öffnete und einen Fuß auf die steinerne Schwelle stellte, beugte er den Kopf etwas zu beiläufig auf die Worte hinunter, statt die wilden Tiere auf dem Relief über der Tür anzusehen, die normalerweise seine Aufmerksamkeit erregt hätten. Ich spürte, dass es eine alte Gefühlsbindung an das Heiligtum geben musste, das wir da gerade betraten. Und zwischen meiner Intuition und dem nachfolgenden Gedanken lag nicht einmal ein Atemzug: Diese Bindung war entweder von Trauer oder von Furcht getragen, oder auch von einer schrecklichen Verbindung aus beidem.
Saint-Matthieu-des-Pyrénées-Orientales liegt zwölfhundert Meter über dem Meeresspiegel, und das Meer ist längst nicht so weit entfernt, wie einen die bergige Landschaft mit den kreisenden Adlern glauben machen könnte. Mit seinen roten Dächern und gefährlich hoch auf dem Gipfel sitzend, scheint das Kloster förmlich aus einer Bergspitze herausgewachsen zu sein, was in gewisser Weise auch stimmt, denn die erste, um das Jahr 1000 errichtete Kirche war direkt in den Fels gehauen worden. Der Haupteingang zur Abtei ist spätromanisch, beeinflusst von der Kunst der Moslems, die jahrhundertelang um die Einnahme kämpften: ein rechtwinkliges Steinportal, bekrönt von einem geometrischen islamischen Ornament und zwei grimassierenden, stöhnenden christlichen Ungeheuern, im Flachreliefstil modelliert, Kreaturen, die Löwen sein könnten, Bären, Fledermäuse oder Greife – Fabeltiere jeder denkbaren Abstammung.
Innerhalb liegt die winzige Kirche von Saint-Matthieu und ein wundervoller zartsinniger Kreuzgang, die offenen Arkaden gesäumt von Rosenbüschen, ruhend auf so zerbrechlich aussehenden gedrehten Säulen aus rotem Marmor, dass man denken könnte, ein künstlerisch begabter Samson habe sie geformt. Sonnenlicht ergießt sich über die Steinfliesen des Innenhofs, über dem sich plötzlich wieder blauer Himmel wölbt.
Aber das, was mir als Erstes auffiel, als wir das Kloster betraten, war das Geräusch von plätscherndem Wasser, das an diesem so hohen, sommertrockenen Platz unerwartet klang, dabei lieblich und natürlich wie ein Bergbach. Es kam vom Brunnen an der Innenseite des Kreuzgangs, an dem die Mönche einst meditierend vorbeigewandelt waren: einem sechseckigen Becken aus rotem Marmor, dessen sechs Außenflächen mit fein gemeißelten Ansichten des Klosters geschmückt waren. Das zentrale Becken des Brunnens stand auf sechs roten Marmorsäulen (und einem zentralen Pfosten, durch den, wie ich denke, das Quellwasser kommen musste). Im Kreis saßen sechs Wasserspeier an ihm, aus denen Wasser in eine Brunnenschale darunter schoss und eine bezaubernde Musik erzeugte.
Ich betrat den auch nach außen offenen Teil des Kreuzgangs und setzte mich auf die niedrige Mauer, von wo aus ich einen Blick auf mehrere Tausender hatte und schmal gegen den steil aufragenden blauen Wald sich abzeichnende Wasserfälle. Selbst auf einem Gipfel sitzend, waren wir umgeben von den bedrohlich aufragenden, unbezwingbaren Wänden der höchsten Gipfel der östlichen Pyrenäen. Aus dieser Entfernung stürzten die Wasserfälle lautlos in die Tiefe oder schienen zu bloßem Nebel zu werden, während der Brunnen hinter mir ohne Pause spie und plätscherte.
»Das Klosterleben«, murmelte mein Vater und setzte sich zu mir auf die Mauer. Sein Gesicht hatte einen merkwürdigen Ausdruck, und er legte mir einen Arm um die Schulter, was er selten tat. »Es wirkt friedlich, aber es ist sehr schwer. Und manchmal auch böse.« Wir saßen da und
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