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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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wachsende Bedürfnis nach einem neuen Anfang. So ein Wechsel, dachte ich, würde mir gut tun. Ich verfasste zwei kurze Aufsätze über den Zeitpunkt archäologischer und literarischer Belege bei der Untersuchung der kretischen Tongefäßeherstellung. Mit Mühe übte ich mich Tag für Tag in meiner eigentlich angeborenen Selbstdisziplin, und nach und nach besserte sich mein Zustand.
    Während des ersten Monats nach meiner Rückkehr versuchte ich nicht nur jede Erinnerung an meine unangenehme Reise in mir abzutöten, sondern vermied auch jedes Wiedererwachen meines Interesses an dem merkwürdigen kleinen Buch, das ich in meinem Regal hatte verschwinden lassen, und der Forschungsarbeit, die es in Gang gesetzt hatte. Dennoch, als sich mein Selbstvertrauen wieder festigte, wuchs perverserweise auch die Neugier erneut in mir, und so fand ich mich eines Abends mit dem Buch in der Hand wieder und trug meine Notizen aus England und Istanbul zusammen. Das Ergebnis – und von da an betrachtete ich es als solches – kam prompt, war Grauen erregend und tragisch.
    Ich muss hier eine Pause einlegen, mutiger Leser. Ich kann in diesem Moment nicht weiterschreiben. Dabei bitte ich Sie, Ihrerseits nicht nachzulassen, sondern weiterzulesen; so wie auch ich morgen einen neuen Versuch zu schreiben unternehmen werde.
    Der Ihre in tiefstem Kummer, Bartholomew Rossi

 
    10
     
     
     
    Als Erwachsene habe ich oft jenes besondere Vermächtnis kennen gelernt, das die Zeit dem Reisenden überlässt: die Sehnsucht, einen Ort ein zweites Mal aufzusuchen, gezielt zu finden, worüber wir einst wie zufällig gestolpert sind, und so das Gefühl der Entdeckung noch einmal zu durchleben. Manchmal suchen wir dabei einen Ort erneut, der als solcher nicht sonderlich bemerkenswert war – wir wollen ihn nur Wiedersehen, weil wir uns an ihn erinnern. Wenn wir ihn dann finden, ist natürlich alles anders. Die grob gezimmerte Tür ist noch da, aber sie scheint weit kleiner, der Tag ist verhangen und nicht klar, es ist Frühling statt Herbst, und wir sind allein, ohne die drei Freunde von damals. Oder schlimmer noch: mit drei Freunden da, statt allein zu sein.
    Der unerfahrene Reisende kennt dieses Phänomen noch kaum, und bevor ich es am eigenen Leib erfuhr, erlebte ich es bei meinem Vater in Saint-Matthieu-des-Pyrenees-Orientales. Es war mehr ein flüchtiges Gefühl, als dass ich es klar erkannt hätte, dieses Geheimnis der Wiederholung, wobei ich wusste, dass er vor Jahren schon einmal hier gewesen war. Und komischerweise zog ihn dieser Ort in einen Zustand der Entrücktheit wie keiner, den wir früher besucht hatten. In Emona war er vor unserem Besuch bereits einmal gewesen, in Ragusa gleich mehrmals, und auch in Massimos und Giulias steinernem Landhaus hatte er in früheren Jahren bereits mehr als ein harmonisches Abendessen eingenommen. Aber nur in Saint-Matthieu spürte ich, wie sehr er sich nach diesem Ort gesehnt hatte, ihn sich aus einem Grund, den ich nicht auszumachen vermochte, wieder und wieder vor Augen gerufen hatte, ohne jemandem davon zu erzählen. Auch jetzt verlor er kein Wort darüber, abgesehen davon, dass er die Biegung der Straße wiedererkannte, bevor sie an der Klostermauer endete, und später wusste, welche Tür in die Kirche führte, welche in den Kreuzgang und welche in die Krypta. Diese Erinnerung an Einzelheiten war mir nichts Neues. Ich hatte ihn in berühmten alten Kirchen auf die richtige Tür zugehen sehen, oder die richtige Abzweigung zum alten Refektorium nehmen oder anhalten, um am richtigen Häuschen an der richtigen schattigen, gekiesten Einfahrt Eintrittskarten zu kaufen, oder er erinnerte sich sogar, wo er vor langer Zeit einmal die beste Tasse Kaffee getrunken hatte.
    In Saint-Matthieu war er auf eine andere Art aufmerksam. Fast war es, als nehme er schnell sämtliche Wände, Durchgänge und die Besonderheiten des Kreuzgangs in sich auf, und statt zu sich zu sagen: Ah, da ist das wunderbare Tympanon über der Tür, dabei hatte ich gedacht, es wäre auf der anderen Seite, schien er Ansichten abzuhaken, die er vorher schon mit geschlossenen Augen hätte beschreiben können. Wobei ich nach und nach begriff, noch bevor wir den steilen, zypressenbeschatteten Weg hoch zum Haupteingang hinter uns gebracht hatten, dass das, woran er sich hier erinnerte, letztlich keine architektonischen Einzelheiten waren, sondern Geschehnisse.
    Ein Mönch in einer langen braunen Kutte stand am hölzernen Tor und verteilte schweigend

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