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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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unserem Platz aus hoch in die Berge. »Ich glaube, das ist Saint-Matthieu.«
    Ich folgte seiner Geste auf die schwarzen, mächtigen Gebirgsformationen und sah auf halber Höhe ein kleines, beständiges Licht. Ein einsames Licht, wie ein einzelner Funke auf den immensen Falten eines schwarzen Tuches, hoch oben, aber immer noch weit von den höchsten Gipfeln entfernt – es hing zwischen der Stadt und dem Nachthimmel.
    »Ja, genau da muss das Kloster sein, denke ich«, sagte mein Vater wieder. »Da haben wir einen ganz schönen Aufstieg vor uns, auch wenn wir die Straße hochgehen.«
    Als wir durch die mondlose Stadt gingen, verspürte ich jene Traurigkeit, die den Sturz aus großer Höhe begleitet, bei dem alles Erhabene verloren geht. Bevor wir um die Ecke des alten Glockenturms kamen, drehte ich mich noch einmal um und blickte zurück, um jenen kleinen Lichtfleck in meiner Erinnerung zu verankern. Ja, da war er wieder – er leuchtete über einer Häuserwand, von der sich eine dunkle Bougainvillea ergoss. Für einen Moment stand ich da und sah angestrengt zu ihm hinauf. Dann, ein einziges Mal, flackerte das Licht.

 
    9
     
     
     
    14. Dezember 1930
    Trinity College, Oxford
     
    Mein lieber, unglücklicher Nachfolger,
    ich werde meinen Bericht so schnell wie möglich beenden, da Sie entscheidende Informationen aus ihm ziehen müssen, wenn wir beide… ja, überleben sollen… Und das in einem Zustand von Güte und Erbarmen. Überleben ist nicht gleich Überleben, das lernt der Historiker zu seinem Kummer. Die übelsten Züge des Menschen überleben Generationen, Jahrhunderte, Millennien, während die besten unserer persönlichen Anstrengungen oft mit uns am Ende eines einzigen Lebens sterben.
    Aber um fortzufahren: Die Reise von England nach Griechenland war eine der angenehmsten, die ich je erlebt habe. Der Direktor des Museums auf Kreta stand sogar am Kai, um mich in Empfang zu nehmen, und er lud mich ein, später im Sommer noch einmal wiederzukommen, um der Öffnung eines minoischen Grabes beizuwohnen. Dazu kam, dass zwei amerikanische Altphilologen, die ich schon seit Jahren kennen lernen wollte, in derselben Pension wie ich wohnten. Sie drängten mich, über die gerade an ihrer Fakultät frei gewordene Stelle Erkundigungen einzuziehen, – genau das Richtige für jemanden mit meinem Hintergrund –, und überschütteten mich mit Lob für meine Arbeit. Ich bekam problemlos Zugang zu allem, was mich interessierte, einschließlich einiger privater Sammlungen. Nachmittags, wenn die Museen schlossen und alle Siesta machten, saß ich auf meinem hübschen, von Wein beschatteten Balkon, arbeitete meine Notizen aus und stieß dabei auf verschiedene Ideen für weitere Arbeiten, denen ich mich zu einem späteren Zeitpunkt würde widmen können. Unter diesen idyllischen Umständen überlegte ich ein weiteres Mal, ob ich nicht endgültig fallen lassen sollte, was mir eine morbide Laune zu sein schien: meine Nachforschungen zu diesem seltsamen Wort »Drakulya«. Ich hatte das alte Buch mitgenommen, da ich mich nicht von ihm trennen wollte, hatte es aber seit einer Woche nicht mehr aufgeschlagen. Alles in allem fühlte ich mich frei von seinem Bann. Aber irgendetwas, sei es die Leidenschaft des Historikers, Dinge zu Ende zu bringen, oder vielleicht auch die reine Liebe zur Jagd, brachte mich dazu, bei meinen Plänen zu bleiben und für ein paar Tage nach Istanbul zu fahren. Und jetzt muss ich Ihnen von meinem einzigartigen Abenteuer in einem Archiv dort erzählen. Möglicherweise ist es das erste verschiedener Ereignisse, die Ihren Unglauben hervorrufen werden. Lesen Sie dennoch bis zu Ende, darum bitte ich Sie.
     
    Seiner Bitte gehorchend, las ich jedes einzelne Wort, sagte mein Vater. Der Brief erzählte noch einmal von Rossis schauerlichem Erlebnis im Archiv Sultan Mehmeds IL, seinem Fund einer in drei Sprachen beschrifteten Karte, die den Ort des Grabs von Vlad dem Pfähler darzustellen schien, und dem Diebstahl dieser Karte durch einen unheimlichen Bürokraten mit zwei winzigen Wundmalen am Hals.
    Beim Erzählen dieser Geschichte verlor der Schreibstil etwas von der Kompaktheit und Kontrolle, die mir in den beiden ersten Briefen aufgefallen war, er wurde dünner und gehetzt und war gespickt mit kleinen Fehlern, als habe Rossi das alles in großer Erregung geschrieben. Und obwohl ich mich selbst auch unbehaglich fühlte (denn mittlerweile war es Nacht, ich war wieder in meiner Wohnung, hatte den Riegel vorgeschoben und

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