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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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sahen über diesen Abgrund, der so tief war, dass die Morgensonne den Boden noch nicht erreicht hatte. Da hing etwas glitzernd in der Luft unter uns, und noch bevor mein Vater darauf deutete, wusste ich, was es war: ein Raubvogel, der langsam entlang der steilen Abhänge jagte, dahinwehend wie ein Kupferblech.
    »Höher gebaut, als der Adler jagt«, bemerkte mein Vater.
    »Der Adler ist ein uraltes christliches Symbol, das Symbol des heiligen Johannes. Der heilige Matthäus – Saint Matthieu – ist der Mensch, Lukas der Stier und der heilige Markus natürlich der geflügelte Löwe. Den Löwen findest du entlang der gesamten Adria, weil er der Schutzheilige Venedigs war. Er hält ein Buch in den Pranken: Wenn das Buch offen ist, wurde die Statue oder das Relief zu Friedenszeiten modelliert. Ist es geschlossen, befand Venedig sich gerade im Krieg. Erinnerst du dich an Ragusa? Da hielt der Löwe über dem Tor ein geschlossenes Buch in den Klauen. Und jetzt haben wir den Adler gesehen, der diesen Ort hier bewacht. Nun, das Kloster braucht einen Wächter.« Er runzelte die Stirn, stand auf und wandte sich ab. Mir schien, dass er unseren Besuch hier bedauerte und den Tränen nahe war. »Wollen wir einen Rundgang machen?«
     
     
    Später, auf dem Weg hinunter in die Krypta, zeigte mein Vater wieder dieses unbeschreibliche Angstverhalten. Wir hatten unseren aufmerksamen Rundgang durch Kreuzgang, Kapelle, Langhaus, Gewölbe und ein vom Wind angegriffenes Küchengebäude beendet. Die Krypta war die letzte Station auf unserer selbst geführten Klostertour, ein Nachtisch für den morbiden Geist, wie mein Vater zu sagen pflegte. Er schien mir etwas zu bedächtig in den gähnenden Treppenschacht hinabzusteigen und hielt mich, ohne auch nur einen Arm zu heben, auf unserem Weg hinunter in den Bauch des Felsens hinter sich. Ein beklemmend kalter Luftzug drang uns aus der dunklen Tiefe entgegen. Die anderen Touristen hatten diese Attraktion längst besichtigt und waren weitergegangen. Wir waren allein.
    »Das war die erste Kirche hier«, erklärte mein Vater, unnötigerweise, mit seiner Dozentenstimme noch einmal. »Als das Kloster dann über mehr Mittel verfügte, konnten sie mit dem Bau fortfahren, gingen in die Höhe und errichteten eine neue Kirche direkt auf der alten.« Kerzen auf Haltern, die an den mächtigen Säulen befestigt waren, erhellten das Dunkel. Ein Kreuz war in die Wand der Apsis gehauen worden, wie ein Schatten schwebte es über dem steinernen Altar oder Sarkophag – es war schwer zu entscheiden, was es war, das da im Halbrund der Altarnische stand. An den Seiten des Mittelgangs, an den Wänden, befanden sich zwei oder drei weitere Sarkophage, klein und einfach, ohne irgendeine Beschriftung. Mein Vater holte tief Luft und ließ den Blick durch die kalte, stille Felshöhle gleiten. »Hier ruhen der Gründer-Abt und ein paar seiner Nachfolger. Und damit haben wir unseren Rundgang beendet. Also dann. Lass uns einen Bissen essen gehen.«
    Ich verweilte noch etwas auf meinem Weg hinaus. Wie eine Welle, fast wie ein Anfall von Panik, überkam mich das Bedürfnis, meinen Vater zu fragen, was er über Saint-Matthieu wusste – und woran er sich hier erinnerte. Aber der breite Rücken seines schwarzen Leinenjacketts sagte mir deutlich: Warte. Alles zu seiner Zeit. Ich sah mich noch einmal zu dem Sarkophag am anderen Ende der alten Felskapelle um. Seine Form wirkte derb und schwerfällig im kaum flackernden Schein der Kerzen. Was immer er in sich barg, war Teil der Vergangenheit, und auch Raten würde es nicht wieder ans Licht bringen.
    Etwas anderes wusste ich jedoch bereits, auch ohne dass ich hätte raten müssen: Die Geschichte, die ich beim Essen auf der ein geziemendes Stück unterhalb der Zellen der Mönche gelegenen Terrasse hören würde, mochte an einem Ort spielen, der weit von dem hier entfernt war, würde aber wie unser Besuch hier eine weitere Annäherung an die Angst sein, die in meinem Vater saß. Warum hatte er mir nicht von Rossis Verschwinden erzählen wollen, bevor Massimo damit herausgeplatzt war? Warum hatte er sich verschluckt und war so weiß geworden, als uns der maître die Legende von den lebenden Toten erzählt hatte? Was für eine Erinnerung meinen Vater auch heimsuchen mochte, dieser Ort hier, der heilig und nicht schrecklich sein sollte, rief sie mit Macht in ihm wach, bedrängte ihn derart, dass er die Schultern verspannte und abwehrend hochzog. Wie Rossi würde ich daran arbeiten

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