Der Historiker
abergläubisch die Vorhänge zugezogen), bemerkte ich doch, wie sich die Sprache mit den fortschreitenden Ereignissen veränderte; sie folgte engstens dem, was er mir erst vorgestern Abend berichtet hatte. Es war, als hätte sich die Geschichte vor einem Vierteljahrhundert so tief in sein Denken gefressen, dass er sie jedem neuen Zuhörer nur mehr vorlesen musste.
Es gab noch drei Briefe, und ich nahm mir den nächsten vor.
11. Dezember 1930
Trinity College, Oxford
Mein lieber, unglücklicher Nachfolger,
von dem Augenblick an, da der hässliche Beamte mir die Karte wegnahm, schien mich mein Glück zu verlassen. Als ich in mein Hotel zurückkam, stellte ich fest, dass der Hotelmanager mich in ein kleineres und schäbigeres Zimmer umquartiert hatte, weil in meinem ein Teil der Decke heruntergebrochen war. Dabei waren einige meiner Papiere verschwunden und auch ein Paar goldener Manschettenknöpfe, die ich sehr geliebt hatte.
Dort in meinem voll gestopften neuen Zimmer versuchte ich sogleich, meine Notizen zu Vlad Draculas Geschichte zu rekonstruieren – und die Karten, die ich im Archiv studiert hatte. Dann machte ich mich eilig auf den Weg zurück nach Kreta, um meine Studien wieder aufzunehmen.
Die Überfahrt nach Kreta war schrecklich, das Meer war rau, und die Wellen gingen hoch. Auf Kreta dann wehte ein heißer, verrückt machender, nicht aufhören wollender Wind, wie der berüchtigte französische Mistral. Mein altes Zimmer war belegt, und ich fand nur eine erbärmliche Unterkunft, die dunkel und feucht war. Meine amerikanischen Kollegen waren abgereist. Der freundliche Direktor des Museums war krank geworden, und niemand schien sich an seine Einladung zur Öffnung des minoischen Grabes zu erinnern. Ich machte mich wieder an meinen Text über Kreta, suchte in meinen Aufzeichnungen jedoch vergeblich nach Inspiration. Zudem würde meine Nervosität auch nicht gerade von den überall und selbst unter Städtern anzutreffenden Formen von Aberglauben gemildert, die mir auf früheren Reisen so nicht aufgefallen waren, obwohl sie in Griechenland weit verbreitet sind, so dass sie mir schon vorher begegnet sein müssen. Nach der griechischen Überlieferung, wie vielen anderen, entsteht ein Vampir, der vrykolakas, aus einem Leichnam, der nicht richtig beerdigt wurde oder zu langsam verwest, nicht zu reden von Fällen, in denen jemand lebendig begraben wurde. Die alten Männer in Kretas Kafenions und Tavernen schienen mir weit lieber ihre zweihundertzehn Vampirgeschichten erzählen zu wollen, als mir zu erklären, wo ich noch andere Tonscherben finden könnte wie die, die ich ihnen da zeigte, oder nach welchen alten Wracks ihre Großväter getaucht waren und was sie darin gefunden hatten. Eine Abends ließ ich mich von einem Fremden zu einer lokalen Spezialität einladen, die skurrilerweise »Amnesia« genannt wurde – mit dem Erfolg, dass ich mich am nächsten Tag hundeelend fühlte.
Nichts, aber auch gar nichts ging mehr gut bis zu meiner Rückkehr nach England; diese wurde von einem heftigen Regensturm begleitet, der mir meine bis dahin schlimmste Seekrankheit verschaffte.
Ich schreibe diese Umstände für den Fall auf dass sie Licht auf andere Aspekte meines Falls werfen könnten. Zumindest erklären sie Ihnen die Verfassung, in der ich in Oxford ankam: Ich war erschöpft, entmutigt, von Ängsten gezeichnet. Aus dem Spiegel sah mich ein blasses, mageres Etwas an. Wann immer ich mich beim Rasieren schnitt, was in meiner nervösen Tolpatschigkeit häufig vorkam, wimmerte ich, sah die halb verheilten Wundmale auf dem Hals des türkischen Beamten vor mir und zweifelte zusehend an der Verlässlichkeit meiner eigenen Erinnerung. Manchmal hatte ich das Gefühl – das mich fast in den Wahnsinn trieb – , ein Ziel nicht erreicht zu haben, irgendeine Absicht, die ich nicht zu rekonstruieren vermochte. Ich fühlte mich allein und war voller Sehnen. Kurz, mein Nervenkostüm war in einem Zustand wie noch nie zuvor.
Natürlich versuchte ich weiterzumachen wie bisher, erzählte niemandem etwas von den Vorkommnissen und bereitete mich mit der gewohnten Sorgfalt auf das kommende Semester vor. Ich schrieb den amerikanischen Altertumswissenschaftlern, die ich in Griechenland kennen gelernt hatte, und vertraute ihnen an, dass ich zumindest an einer kurzen Anstellung in den Staaten interessiert wäre, und oh sie mir dabei eventuell behilflich sein könnten. Ich war fast fertig mit meiner Doktorarbeit und fühlte das
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