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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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müssen, meine eigenen Hinweise zu finden. Je weiter die Geschichte fortschritt, desto mehr begriff ich das.

 
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    Bei meinem nächsten Besuch in der Amsterdamer Bibliothek stellte sich heraus, dass Mijnher Binnerts während meiner Abwesenheit verschiedene Dinge für mich herausgesucht hatte. Als ich direkt nach dem Unterricht, die Schultasche noch auf dem Rücken, in den Lesesaal kam, sah er mit einem Lächeln zu mir auf.
    »Da bist du ja«, sagte er in seinem schönen Englisch. »Meine junge Historikerin. Ich habe da etwas für dich, für dein Projekt.« Ich folgte ihm an seinen Schreibtisch, aus dem er ein Buch nahm. »Dieses Buch ist noch nicht so alt«, erklärte er mir, »aber es enthält einige sehr alte Geschichten. Sie sind nicht sehr schön zu lesen, junge Dame, aber vielleicht helfen sie dir bei deinem Aufsatz.« Mijnher Binnerts führte mich an einen Tisch, und ich sah ihm dankbar nach, als er zurück an seinen Arbeitsplatz ging. Es berührte mich, dass er mir etwas Schreckliches anvertraute.
    Das Buch hieß Geschichten aus den Karpaten, es war ein schäbiger Band aus dem neunzehnten Jahrhundert, den ein englischer Sammler namens Robert Digby im Selbstverlag herausgebracht hatte. Digbys Vorwort beschrieb seine Wanderungen durch wilde Berge und noch wildere Sprachen, auch wenn er für einen Teil des Buches russische und deutsche Quellen zusammengetragen hatte. Seine Erzählungen klangen ebenfalls wild, und sein Stil hatte einen romantischen Einschlag, aber im Vergleich mit späteren Versionen dieser Geschichten, die ich bei jüngeren Sammlern und Übersetzern fand, würde ich ihnen nach wie vor den Vorrang geben. Es gab zwei Geschichten über »Fürst Dracula«, die ich begierig in Angriff nahm. Die erste beschrieb, wie Vlad Tepes gern draußen zwischen seinen gepfählten Opfern tafelte. Einmal beschwerte sich ein Diener vor Dracula offen über den Gestank, worauf der Fürst seinen Männern befahl, den Diener hoch über den anderen zu pfählen, damit dessen Nase nicht beleidigt werde. In einer zweiten Version dieser Geschichte berichtete Digby, dass Dracula nach einem Pfahl rief, der dreimal so lang war wie die, mit denen die anderen gepfählt worden waren.
    Die zweite Geschichte war ähnlich grausam. Sie beschrieb, wie Sultan Mehmed II. zwei Botschafter zu Dracula schickte. Als sie vor ihn hintraten, behielten sie ihre Turbane auf dem Kopf. Dracula wollte wissen, warum sie ihn auf diese Weise entehrten, und sie antworteten, dass sie sich lediglich gemäß ihrer Sitten verhielten. »Dann will ich Euch helfen, Eure Sitten zu stärken«, sagte Dracula und ließ ihnen die Turbane an die Köpfe nageln.
    Ich übertrug Digbys zwei kleine Erzählungen in mein Notizbuch. Als Mijnher Binnerts an meinen Tisch trat, um zu sehen, wie ich zurechtkam, fragte ich ihn, ob wir auch nach zeitgenössischen Berichten über Dracula suchen könnten, wenn es die denn gäbe. »Sicher«, sagte er und wiegte bedächtig den Kopf. Für heute mache er Feierabend, aber er werde danach suchen, sobald er Zeit dafür habe. Vielleicht könne ich mir ja – er schüttelte den Kopf und lächelte – nach Dracula ein angenehmeres Thema aussuchen, mittelalterliche Architektur zum Beispiel. Ich versprach, es mir zu überlegen, und lächelte ebenfalls.
    Es gibt keinen mitreißenderen Ort auf dieser Welt als Venedig an einem luftigen, heißen, wolkenlosen Tag. Die Boote schaukeln und heben sich in der Lagune, als wollten sie herrenlos auf Abenteuerfahrt gehen, die schmuckvollen Fassaden leuchten im Sonnenlicht, und das Wasser riecht zur Abwechslung einmal frisch. Die ganze Stadt bläht sich wie ein Segel, scheint ein losgemachtes, dahintanzendes Boot zu sein, das bereit ist, davonzutreiben. Die Wellen der Schnellboote schlagen rau gegen den Rand der Piazza San Marco und produzieren eine festliche und doch vulgäre Musik, wie das Gegeneinanderschlagen von Becken. In Amsterdam, dem Venedig des Nordens, hätte solch ein jubilierendes Wetter die Stadt in frischer Entschlossenheit glitzern lassen. Hier ließ es bei genauerem Hinsehen die Risse im Bild der Vollkommenheit aufscheinen, einen mit Unkraut bewachsenen Brunnen auf einem versteckten Platz zum Beispiel, der, anstatt kräftig Wasser zu speien, nur rostig vor sich hin tröpfelte. San Marcos Pferde paradierten schäbig im glitzernden Licht. Die Säulen des Dogenpalastes sahen unangenehm schmutzig aus.
    Ich machte eine Bemerkung über diese feierlich morsche Glücksstimmung, und

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