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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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Bibliothek, die ich noch nicht durchgearbeitet hatte. Ich legte meine Uhr neben mich hin und registrierte mit abergläubischem Erschauern, dass sie Viertel vor zwölf anzeigte. Morgen schon, so sagte ich mir, würde ich in die Bibliothek gehen und mir alles anlesen, womit ich mich in den nächsten Tagen wappnen konnte. Es konnte nicht schaden, mehr über Silberkugeln, Knoblauchknollen und Kruzifixe herauszufinden, waren das doch über Jahrhunderte die landläufigen Hilfsmittel gegen die Untoten gewesen. Wenigstens würde ich damit Vertrauen in die Tradition zeigen. Im Moment hatte ich zwar nur Rossis Rat, aber Rossi hatte mich nie im Stich gelassen, wenn es in seiner Macht lag, mir zu helfen. Ich nahm meinen Stift in die Hand und beugte mich über die Flugschrift.
    Noch nie war es mir so schwer gefallen, mich zu konzentrieren. Jeder einzelne Nerv in meinem Körper war auf die Präsenz dort draußen ausgerichtet – wenn es denn eine Präsenz war –, als könnte ich es eher erspüren als hören, wenn etwas außen über die Fenster strich. Mit viel Mühe versetzte ich mich in das Amsterdam des Jahres 1690. Ich schrieb einen Satz, dann noch einen.
    Vier Minuten noch bis Mitternacht. »Nach ein paar Anekdoten aus dem Leben holländischer Seeleute suchen«, schrieb ich mir auf meinen Merkzettel. Ich dachte an die Kaufleute, die sich in ihren alten Gilden fest zusammenschlossen, um das Beste aus ihrem Leben und ihren Waren zu machen, und wie sie Tag für Tag aus einem einfachen Pflichtbewusstsein heraus handelten und einiges aus ihren Einkünften darauf verwandten, Krankenhäuser für die Armen zu bauen. Zwei Minuten noch bis Mitternacht. Ich notierte mir den Namen des Autors der Schrift, damit ich ihn später nachschlagen konnte. »Erkunde die Bedeutung von Druckereien in der Stadt für Kaufleute«, schrieb ich auf.
    Der Minutenzeiger meiner Uhr sprang plötzlich, und ich schreckte hoch. Gleich war es zwölf. Die Druckereien könnten außerordentlich wichtig gewesen sein, überlegte ich und zwang mich, nicht hinter mich zu blicken, während ich dort an meinem Tisch saß, besonders wenn die Gilden einige von ihnen kontrollierten. Konnten sie sich die Kontrolle über sie erkauft haben durch Aufkauf? Hatten die Drucker ihre eigene Gilde? Wie vereinbarte sich vor diesem Hintergrund die Idee von der unter holländischen Intellektuellen diskutierten Pressefreiheit mit dem Eigentum an Druckereien? Für einen Moment erwachte mir selbst zum Trotz mein Interesse, und ich versuchte mich zu erinnern, was ich über die Anfänge von Amsterdam und Utrecht als Druck- und Verlagsorte gelesen hatte. Ich warf einen Blick auf meine Uhr. Drei Minuten nach Mitternacht. Mein Atem beruhigte sich, und mein Stift bewegte sich wieder freier über das Papier.
    Was immer mich beobachtete, war nicht so schlau, wie ich befürchtet hatte, dachte ich und war darauf bedacht, nicht in meiner Arbeit nachzulassen. Offenbar beurteilten die Untoten etliches, was sie sahen, dem äußeren Anschein nach, und ich schien der Warnung durch Rembrandts Tod Beachtung geschenkt und mich zurück an meine gewohnte Arbeit gemacht zu haben. Lange würde ich meine eigentlichen Aktivitäten nicht verbergen können, aber heute Nacht war mein Auftritt der einzige Schutz, den ich hatte. Ich zog die Lampe näher heran und begab mich für eine weitere Stunde in das siebzehnte Jahrhundert, um den Eindruck meiner Versunkenheit in die Arbeit noch zu vertiefen. Während ich so tat, als schriebe ich etwas auf, erwog ich verschiedene Dinge. Die letzte Drohung an Rossi, im Jahr 1931, war sein eigener Name am Begräbnisplatz von Vlad dem Pfähler gewesen. Rossi war nicht tot auf seinem Tisch liegend aufgefunden worden, wie es mir ergehen mochte, wenn ich nicht vorsichtig war. Er hatte auch nicht wie Hedges verletzt auf dem Korridor gelegen. Er war entführt worden. Er konnte tot irgendwo liegen, aber bis ich das sicher wusste, bestand die Hoffnung, dass er noch lebte. Von morgen an würde ich das Grab selber suchen.
     
     
    Wir saßen in der alten französischen Festung, und mein Vater starrte hinaus aufs Meer, wie er in Saint-Matthieu in die Bergluft hinausgesehen und den Adler beobachtet hatte, der sich schräg legte und über dem Abgrund zu kreisen begann. »Lass uns zurück ins Hotel gehen«, sagte er endlich. »Die Tage werden schon kürzer, hast du gemerkt? Ich will hier nicht von der Dunkelheit überrascht werden.«
    In meiner Ungeduld wagte ich zu fragen: »Warum?«
    Er sah mich

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