Der Historiker
und sehr traurige Aufgabe bestand darin, Rembrandt zu begraben. Aber dann machte ich mich auch schon auf zur Bibliothek, um dort zu sein, sobald sie ihre Pforten öffnete. Ich wollte diesen Tag vollends nutzen, um mich auf die nächste Nacht und den nächsten Angriff der Dunkelheit vorzubereiten. Jahrelang war die Nacht gut zu mir gewesen, ein Kokon aus Ruhe, in dem ich lesen und schreiben konnte. Jetzt bedeutete sie plötzlich eine Bedrohung, eine unvermeidbare Gefahr, die nur Stunden entfernt war. Und vielleicht ging ich ja bald auch auf Reisen, mit all den nötigen Vorbereitungen, die so etwas mit sich brachte. Allerdings, dachte ich reuig, müsste ich dazu zunächst einmal wissen, wohin ich überhaupt wollte.
Die Haupthalle der Bibliothek war sehr ruhig, abgesehen von den hallenden Schritten der Bibliothekare, die bereits ihrer Arbeit nachgingen. So früh waren nur wenige Studenten hier, und ich würde wenigstens eine halbe Stunde Ruhe und Frieden haben. Ich trat in das Labyrinth des Zettelkatalogs, öffnete mein Notizbuch und zog den Karteikasten heraus, den ich brauchte. Es gab verschiedene Einträge zu den Karpaten, einen zu transsylvanischer Folklore. Ein Buch über Vampire – Legenden der ägyptischen Tradition. Ich fragte mich, wie viel die Vampire dieser Welt gemeinsam hatten. Glichen ägyptische Vampire denen in Osteuropa? Eine Frage für einen Archäologen, nicht für mich, aber ich schrieb mir die Titel- und Standortnummer des Buches über die ägyptische Tradition auf.
Dann suchte ich unter »Dracula«. Es war ein Schlagwort- und Titelkatalog; irgendwo hinter »Drab-Ali der Große« und »Drachen, Asien« musste es zumindest einen Eintrag geben: die Titelkarte für Bram Stokers Dracula, den die junge schwarzhaarige Frau am Abend zuvor dabeigehabt hatte. Vielleicht hatte die Bibliothek sogar zwei Exemplare eines solchen Klassikers. Ich brauchte ihn sofort. Rossi hatte gesagt, in das Buch sei Stokers Wissen über Dracula-Legenden eingeflossen, was hieß, dass es Vorschläge enthalten konnte, wie ich mich würde schützen können. Ich blätterte vor und zurück. Es gab nicht einen einzigen Eintrag unter »Dracula« – nichts und noch mal nichts. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass die Legende Anlass umfassender Untersuchungen gewesen wäre, aber doch immerhin, dass irgendwo ein Buch verzeichnet war.
Dann fiel mein Blick auf etwas, was hinter »Drachen« steckte. Ein kleiner Fetzen Papier am Boden des Karteikastens deutete darauf hin, dass zumindest eine Karte herausgerissen worden war. Ich lief zum Zettelkasten mit »St«. Kein Eintrag unter Stoker, nur ein zweiter Hinweis auf einen eiligen Diebstahl. Ich setzte mich auf den nächstbesten Stuhl. Das war alles zu seltsam. Warum hatte jemand gerade diese Karten herausgerissen?
Die schwarzhaarige junge Frau hatte das Buch zuletzt ausgeliehen, das wusste ich. Hatte sie die Hinweise auf das, was sie ausgeliehen hatte, vernichten wollen? Aber wenn sie das Buch hatte stehlen oder verstecken wollen, warum hatte sie es dann so offen mit sich herumgetragen, mitten in der Bibliothek? Jemand anders musste die Karten herausgerissen haben, vielleicht jemand, der nicht wollte, dass ein anderer das Buch hier fand. Aber warum? Wer immer der Täter gewesen war, hatte eilig gehandelt, ohne die Spuren seines Diebstahls zu verwischen. Ich durchdachte das Ganze noch einmal. Der Katalog war sakrosankt, jeder Student, der auch nur einen Karteikasten auf einem der Tische vergaß und dabei erwischt wurde, hatte mit einer scharfen Zurechtweisung durch einen der Angestellten oder einen Bibliothekar zu rechnen. Jede Beschädigung des Katalogs musste schnell passieren, das war sicher, genau im richtigen Moment, wenn niemand da war oder zu einem herübersah. Wenn die junge Frau es nicht selbst getan hatte, dann wusste sie vielleicht auch nicht, dass jemand anders das Buch nicht ausgeliehen sehen wollte. Und wahrscheinlich hatte sie es noch. Ich rannte fast zur Information.
Die Bibliothek war im absolut gotischsten aller gotischen Revival-Stile erbaut, und zwar zu der Zeit, als Rossi in Oxford (wo er allerorten von den Originalen umgeben war) sein Studium beendete. Der Stil war mir immer schön und gleichzeitig ulkig erschienen. Um zur Hauptinformation zu kommen, musste ich durch ein langes Kirchenschiff eilen. Die Ausleihe befand sich dort, wo in einer echten Kirche der Altar gestanden hätte, unter einem Wandbild von Unserer lieben Frau – des Wissens, nehme ich an – in
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