Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
Vom Netzwerk:
an, mit ernster Miene, als wägte er die Risiken der Antworten ab, die er mir geben konnte. »Der Weg zurück nach unten ist sehr steil«, sagte er endlich. »Ich möchte nicht in der Dunkelheit zwischen den Bäumen nach ihm suchen müssen. Du vielleicht?« Es war nicht leicht, ihn zu überrumpeln, wie ich sah.
    Ich sah hinunter auf den Olivenhain, der jetzt grauweiß statt pfirsichfarben und silbern war. Sämtliche Bäume waren verdreht und sahen auf zu den Ruinen einer Festung, die sie einst – oder ihre Vorfahren – vor den Fackeln der Sarazenen geschützt hatte.
    »Nein«, sagte ich. »Das würde ich nicht.«

 
    16
     
     
     
    Es war gerade Dezember geworden, und wir waren wieder unterwegs. Die Trägheit unserer Sommerreisen Richtung Mittelmeer schien weit hinter uns zu liegen. Kräftiger Adriawind kämmte mir durchs Haar, und ich mochte seine unbeholfene Rauheit. Es war, als tappte ein großes wildes Tier mit schweren Pfoten über den Hafen, ließ die Flaggen vor dem modernen Hotel hin und her schlagen und zerrte an den Kronen der Platanen, mit denen die Promenade gesäumt war. »Was?«, rief ich. Mein Vater hatte etwas Unverständliches gesagt und deutete auf das oberste Stockwerk des Kaiserpalastes. Wir legten beide die Köpfe in den Nacken.
    Diokletians elegante Festung erhob sich vor uns in den morgendlichen Sonnenhimmel, und ich fiel fast hintenüber, als ich versuchte, ihren oberen Rand zu sehen. Viele der Zwischenräume zwischen den schönen Säulen waren geschlossen worden – oft von Leuten, die das Gebäude in Wohnungen aufgeteilt hatten, wie mir mein Vater erklärte –, so dass die ganze seltsame Fassade, vieles davon römischer Marmor, den man aus anderen Gebäuden gebrochen hatte, den Anschein eines steinernen Flickenteppichs erweckte. Hier und da hatten Wasser oder Erdbeben Risse geschaffen. Zähe kleine Pflanzen, sogar kleine Bäumchen, sprossen daraus hervor. Der Wind schlug die breiten Kragen der Seeleute hoch, die zu zweit oder zu dritt am Kai entlangschlenderten. Ihre Gesichter hoben sich messingfarben von den weißen Uniformen ab, und ihre kurz geschnittenen dunklen Haarschöpfe glänzten wie Drahtbürsten. Ich folgte meinem Vater über heruntergefallene schwarze Walnüsse und Laub und Platanenäste um das Gebäude herum auf einen von Monumenten umgebenen Platz, der nach Urin stank. Vor uns erhob sich ein fantastischer Turm, offen für den Wind und dekoriert wie ein Kuchen: wie eine riesige, hohe, schlanke Hochzeitstorte. Hier hinten war es ruhiger, und wir brauchten nicht mehr zu schreien.
    »Den habe ich immer schon sehen wollen«, sagte mein Vater. »Hättest du Lust, da hochzuklettern?«
    Ich ging voraus und nahm voller Eifer eine der eisernen Stufen nach der anderen. Auf dem Marktplatz in der Nähe des Kais, von dem ich beim Aufstieg immer wieder durch eine marmorgerahmte Öffnung einen Blick erhaschte, hatten sich die Bäume goldbraun verfärbt, so dass die Zypressen am Wasser neben ihnen mehr schwarz als grün wirkten. Als wir höher kamen, konnte ich das marineblaue Hafenwasser unter uns sehen und die weißen Gestalten der Seeleute auf Landgang, die sich vor den Straßencafés hin und her bewegten. Eine schmale Bucht in der Ferne, jenseits unseres großen Hotels, deutete wie ein Pfeil ins Innere der slawisch sprechenden Welt, die meinen Vater bald schon mit in den Sog der sich darin ausbreitenden politischen Entspannung ziehen würde.
    Dann war nur noch das Dach des Turms über uns, und wir standen da und schnappten nach Luft. Nur eine eiserne Plattform bewahrte uns vor dem Sturz in die Tiefe; von hier aus konnten wir durch das Spinnennetz der eisernen Stufen, die wir gerade hinaufgeklettert waren, bis hinunter auf die Erde sehen. Die Welt dehnte sich hinter steingerahmten Öffnungen, die sämtlich niedrig genug schienen, dass ein unvorsichtiger Tourist hinausstürzen und neun Stock tiefer aufs Hofpflaster schlagen könnte. Wir setzten uns auf eine Bank in der Mitte und sahen aufs Wasser hinaus. So ruhig saßen wir da, dass ein Mauersegler hereinkam, die Flügel zu engen Bögen gegen den ruppigen Seewind geformt – er stand einen Moment im Wind und verschwand dann hinter dem Dachgesims. Er hatte etwas Helles im Schnabel, etwas, was den Glanz der Sonne einfing, als er sich vom Wasser her näherte.
    An dem Morgen, nachdem ich Rossis Papiere durchgesehen hatte, wachte ich früh auf, sagte mein Vater. Ich habe mich nie so über die Sonne gefreut wie an diesem Morgen. Meine erste

Weitere Kostenlose Bücher