Mürrische Monster
Prolog
Wexford, Irland – 1739 n. Chr.
Mein Meister ist wohlbehalten von der Reise zurückgekehrt!«, kritzelte George McFeen auf das knittrige Pergament des in Kalbsleder gebundenen Kompendiums.
Es war ein schlichter Satz – kurz, freudig und von der Zuneigung kündend, die der irische Schüler für seinen Lehrmeister empfand. McFeen beendete den Eintrag mit einem schwungvollen Schnörkel, sprang auf und eilte aus der Schreibkammer, um an der Wiedersehensfeier teilzunehmen.
Als er sich am nächsten Tag erneut an den Schreibtisch setzte, hatte er allen Überschwang verloren. Stirnrunzelnd brütete er vor sich hin und trommelte zögernd mit der Schreibfeder gegen das Tintenfässchen, bis er sie schließlich eintauchte und zum Pergament führte.
»Zuerst war ich überglücklich, dass mein Mentor heimgekehrt ist«, notierte er und wählte die Worte mit Bedacht, bevor er sie niederschrieb. »Ich hatte ihn tot geglaubt. Das taten wir alle, denn kein Mensch kann ohne Essen und Trinken dreißig Tage auf hoher See überleben – und doch ist es ihm irgendwie gelungen. Er sagt, er habe sich von den saftigen Insekten ernährt, die das verfaulte Holz seines Bootes befallen hatten.«
Ein Luftzug ließ die Kerzenflamme flackern, und Mc-Feen schaute über die Schulter. Als er niemanden sah, schloss er die Augen. Doch er spürte auch außerhalb seines Blickfeldes nichts in der Kammer, also schrieb er weiter.
»Er ist ohne die Dämonen zurückgekehrt und erzählt, er hätte ihre Spur verloren. Ich war zu beglückt, um an seinen Worten zu zweifeln. Aber er verhält sich sonderbar. Ganz anders als vor der Reise. Und wenn er über die Dämonen spricht, tropft ihm der Geifer von den Lippen.«
McFeen stieß sich vom Schreibtisch ab und merkte, dass er schwitzte. Er klappte das Kompendium zu und sperrte beim Hinausgehen gewissenhaft die Tür ab.
Eine Woche darauf öffnete sich die Tür von neuem. McFeen trat eilig ein und setzte sich. Er schrieb mit zittriger Hand.
»Seine Streifzüge sind neuerdings ungeheuer ergiebig, er wittert die Beute wie ein Jagdhund. Und sein Äußeres verändert sich. Als ich heute Abend am Salon vorbeiging, beobachtete ich, wie er sich über ein Geschöpf beugte, dessen wir gerade habhaft geworden waren, einen Hungerdämon der ersten Ebene, den wir fast ein ganzes Jahr lang kreuz und quer über die Insel verfolgt hatten. Durch den Türspalt sah ich ihn über der Gestalt knien. Ich hörte ein Knirschen und dann den grässlichen Schrei des Dämons. Einzelheiten konnte ich nicht erkennen, aber ich weiß, dass unsere Aufgabe gefährdet ist, denn wir haben geschworen, sie zu schützen, und er hat ihn umgebracht. Ich glaube, er hat nicht bemerkt, wie ich mich davonschlich.«
Zwei Tage später kehrte McFeen noch einmal an den Schreibtisch zurück, um einen letzten Eintrag zu diesem Kapitel vorzunehmen. Es dauerte nicht lange. Als er fertig war, setzte er mit einem Stoßseufzer den Punkt hinter das letzte Wort, dann erhob er sich bekümmert. Das Dämonenhüter-Kompendium ließ er aufgeschlagen liegen.
»Er verschlingt sie«, hatte er hinzugefügt. »Mein Mentor ist ein Dämonenfresser.«
1. Kapitel
Der Troll erwacht
Seattle, USA – 2010
Leiser Nieselregen durchtränkte das abendliche Seattle, und ein junges Mädchen in einem rosafarbenen Kleid trat zögernd unter die Aurora-Brücke am Highway 99, verfolgt von den letzten Sonnenstrahlen über der Elliot Bay.
Sie wandte sich um, hob den Blick und erstarrte. Über ihr erhob sich der Fremont Troll, eine knollenförmige, mürrisch dreinblickende Gestalt, die so groß war, dass ihre linke Hand einen alten VW-Käfer umschloss, als wäre er ein Tennisball. Der wuchtige Oberkörper ragte zwischen zwei breiten Brückenpfeilern aus dem Boden, während die untere Körperhälfte im Asphalt vergraben schien.
»Ist das die Stelle?«, rief der Vater des Mädchens von hinten.
Sie traute sich nicht, etwas zu sagen, deshalb nickte sie nur, während ihr Vater unter die Brücke trottete, eine Digitalkamera von der Größe eines Kartenspiels am Handgelenk.
»Wow«, staunte er. »Steig auf die rechte Hand, ich mach ein Foto von euch.«
Das Mädchen schaute vom Troll zur untergehenden Sonne und dann zurück zum Vater. Sie sah ihn flehend an.
»Er ist viel größer, als du gesagt hast«, flüsterte sie, als fürchtete sie, das Ungetüm könnte zum Leben erwachen. Sie stand reglos da und hoffte, die Sonne würde untergehen, bevor ihr Vater sie dazu gebracht
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