Der Historiker
Porzellantassen, und wir lehnten uns beide zurück, er hinter seinem mächtigen Schreibtisch. Der Raum war von der angenehmen Dämmerung durchdrungen, die um diese Stunde einbrach, aber mit fortschreitendem Frühling jeden Tag etwas später kam. Dann erinnerte ich mich an mein mittelalterliches Mitbringsel. »Ich habe Ihnen eine Kuriosität mitgebracht, Professor Rossi. Jemand hat ein reichlich morbides Objekt in meiner Koje in der Bibliothek hinterlassen, und nach nun zwei Tagen dachte ich, ich könnte es mir ausleihen, um Sie einen Blick darauf werfen zu lassen.«
»Geben Sie her.« Er stellte seine zarte Tasse ab und streckte den Arm aus, um das Buch zu nehmen. »Gut gebunden. Der Einband könnte Pergament sein. Und ein geprägter Rücken.« Etwas an dem Rücken des Buches brachte ein düsteres Stirnrunzeln auf sein sonst so klares Gesicht.
»Machen Sie es auf«, schlug ich vor. Ich verstand nicht, warum mein Herz mit einem Mal so aufgeregt klopfte, während ich darauf wartete, dass er die gleiche Erfahrung wie ich mit dem nahezu leeren Buch machte. Auch in seinen erfahrenen Händen öffnete es sich genau in der Mitte. Ich konnte nicht sehen, was er hinter seinem Schreibtisch sah, aber ihn selbst hatte ich im Blick. Sein Gesicht war plötzlich tiefernst – ein unbewegliches Gesicht, das ich nicht kannte. Er blätterte die übrigen Seiten durch, ging nach vorn und hinten, wie ich es getan hatte, aber aus dem Ernst wurde keine Überraschung. »Ja, leer.« Er legte es offen auf seinen Tisch. »Alles leer.«
»Ist das nicht seltsam?« Der Kaffee in meiner Tasse wurde langsam kalt.
»Und ziemlich alt. Aber nicht leer, weil es unvollendet geblieben wäre. Einfach schrecklich leer, um die Darstellung in der Mitte hervorzuheben.«
»Ja, ja, als hätte das Wesen in der Mitte alles um sich herum aufgefressen.« Ich hatte den Satz leichthin begonnen, beendete ihn jedoch langsam.
Rossi schien unfähig, den Blick von der Darstellung zu wenden, die vor ihm lag. Endlich schlug er das Buch entschlossen zu und rührte in seinem Kaffee, ohne jedoch davon zu trinken. »Woher haben Sie das?«
»Wie ich schon sagte: Jemand muss es vor zwei Tagen aus Versehen in meiner Koje in der Bibliothek liegen gelassen haben. Ich nehme an, ich hätte es gleich in die Abteilung für seltene Bücher bringen sollen, aber da ich ernsthaft glaube, dass es der persönliche Besitz von jemandem ist, habe ich damit noch gewartet.«
»Oh, das ist es«, sagte Rossi und sah mich eindringlich an. »Das gehört jemandem persönlich.«
»Und Sie wissen, wem?«
»Ja. Es gehört Ihnen.«
»Nein, ich sage doch, ich habe es nur in meiner Koje…« Der Ausdruck auf seinem Gesicht ließ mich verstummen. Er sah um zehn Jahre gealtert aus; die durch das Fenster hereinfallende Dämmerung musste der Grund dafür sein. »Was meinen Sie damit, dass es mir gehört?«
Rossi stand langsam auf, trat in eine der beiden Ecken hinter seinem Schreibtisch, stieg die zwei Stufen der Trittleiter hoch und holte einen kleinen dunklen Band für mich herunter. Eine Minute lang stand er da und sah ihn an, als sträubte sich etwas in ihm, ihn mir zu geben. Dann reichte er ihn mir. »Was halten Sie davon?«
Das Buch war klein, in alt aussehenden braunen Samt gebunden wie ein altes Gebetbuch oder das keltische Book of Days, mit nichts auf dem Rücken oder Deckel, das ihm eine Identität verliehen hätte. Es hatte einen bronzefarbenen Verschluss, der sich mit ein wenig Druck öffnen ließ. Das Buch fiel in der Mitte auf, und da war mein – ich sage mein – Drache. Diesmal ragte er über die Ränder hinaus, hielt die Klauen ausgestreckt und das gefährliche Maul geöffnet, so dass man die Fangzähne sehen konnte; auf dem Banner prangte dasselbe Wort in derselben gotischen Schrift.
»Natürlich«, sagte Rossi, »hatte ich ausreichend Zeit, Nachforschungen anzustellen. Die Illustration ist zentraleuropäisch und wurde gegen 1512 gedruckt – das heißt, damals gab es sehr wohl bewegliche Lettern, um auch einen Text zu drucken, wenn es einen gegeben hätte.«
Ich blätterte die empfindlichen Seiten langsam um. Kein Titelblatt – aber das wusste ich bereits. »Was für ein seltsames Zusammentreffen. «
»Es hat hinten auf dem Einband einen Salzwasserfleck, vielleicht von einer Reise über das Schwarze Meer. Nicht einmal im Smithsonian konnte man mir sagen, was es auf seinen Reisen erlebt haben muss. Sie sehen, ich habe es sogar chemisch analysieren lassen. Es hat mich
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