Der Historiker
Osmanischen Reich wie von seinen eigenen Leuten. Wirklich einer der übelsten Tyrannen des mittelalterlichen Europas. Man schätzt, dass er während seiner Herrschaftsjahre mindestens zwanzigtausend Walachen und Transsilvanier abgeschlachtet hat. Dracula bedeutet ›Sohn von Dracul‹ – Sohn des Drachens, in etwa. Sein Vater Vlad II. war vom römischen Kaiser Sigismund in den heiligen Orden des Drachen aufgenommen worden, einem Kampfbund von Feudalen des Heiligen Römischen Reiches gegen die osmanischen Türken. Übrigens wird überliefert, dass Dracula als Kind von seinem Vater Vlad Dracul im Rahmen eines politischen Handels den Türken als Geisel, als Pfand, überlassen worden war und dass Dracula, der vier Jahre in türkischer Gefangenschaft verbrachte, einen Teil seines Geschmacks an Grausamkeit durch Kennen lernen der osmanischen Foltermethoden – auch am eigenen Leib – gewann.«
Rossi schüttelte den Kopf. »Wie auch immer, Dracula wird als Fünfundvierzigjähriger in einem Kampf mit den Türken getötet, oder vielleicht auch versehentlich von den eigenen Soldaten, und in einem Kloster auf einer Insel im Snagov-See beigesetzt, der heute im Staatsgebiet Rumäniens, unseres sozialistischen Freundes, gelegen ist. Seine Geschichte wurde zur Legende, überliefert von Generationen abergläubischer Bauern. Gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts dann stößt ein verwirrter, melodramatischer Schriftsteller, Abraham Stoker, auf den Namen Dracula und überträgt ihn auf eine von ihm erdachte Kreatur, einen Vampir. Dracula, Vlad Tepes, war entsetzlich grausam, aber er war natürlich kein Vampir. Und Sie werden in Stokers Buch Vlad Tepes selbst auch nicht erwähnt finden, obwohl Stokers Dracula-Geschichte von der großen Vergangenheit des Geschlechts im Kampf gegen die Türken berichtet.« Rossi seufzte. »Aber Stoker sammelte alle möglichen nützlichen Vampirlegenden und Geschichten über Transsilvanien, ohne je selbst hinzufahren, obwohl Vlad Tepes – oder Dracula – wie wir wissen Herrscher der Walachei war, welche an Transsilvanien grenzt. Im zwanzigsten Jahrhundert übernimmt Hollywood das alles, und der Mythos lebt fort, zu neuem Leben erwacht. Damit bin ich mit meiner Schnoddrigkeit übrigens auch am Ende.«
Rossi stellte seine Tasse zur Seite und faltete die Hände. Erst nach einer kleinen Weile schien er fortfahren zu können. »Mit der Legende, die so ungeheuer kommerzialisiert wurde, kann ich schnoddrig umgehen, nicht aber mit dem, was meine Forschungen ergeben haben. Wobei es teilweise sicher an der Existenz dieser Legende liegt, dass ich mich außer Stande sah, meine Forschungsergebnisse zu veröffentlichen. Ich glaubte nicht, dass man das Thema ernst nehmen würde. Aber es gab auch noch einen anderen Grund.«
Diese Eröffnung verwirrte mich. Rossi ließ nie etwas unveröffentlicht, das Schreiben war Teil seiner Produktivität, seines überbordenden Genius. Und seine Studenten forderte er mit Nachdruck dazu auf, es ihm nachzutun, nichts brachliegen zu lassen.
»Was ich in Istanbul herausfand, war zu ernst, um möglicherweise nicht ernst genommen zu werden. Vielleicht war es falsch, diese Dinge für mich zu behalten, diese Fakten, wie ich sie zweifellos nennen kann, aber jeder von uns hat seinen eigenen Aberglauben. Meiner war der des Historikers. Ich hatte Angst.«
Ich starrte ihn an, und er seufzte, als widerstrebe es ihm fortzufahren. »Sehen Sie, über Vlad Tepes, über Dracula, war immer in den großen Archiven Zentral- und Osteuropas geforscht worden, und schlussendlich auch in seiner Heimat. Seine Laufbahn aber begann er als Türkenschlächter, und ich fand heraus, dass dennoch nie jemand in der osmanischen Welt nach Material über ihn gesucht hatte. Diese Tatsache führte mich nach Istanbul, eine geheime Abschweifung von meiner Forschungsarbeit über die frühe griechische Wirtschaft. Oh, das griechische Material habe ich veröffentlicht, wie besessen.«
Einen Moment lang schwieg er und wandte den Blick zum Fenster. »Ich nehme an, ich sollte Ihnen geradeheraus sagen, was ich in der Sammlung in Istanbul entdeckte und später zu vergessen versuchte. Schließlich haben Sie eines dieser schönen Bücher geerbt.« Er legte seine Hand bedeutungsvoll auf die beiden Bände. »Wenn ich Ihnen das alles nicht selbst erzähle, werden Sie vermutlich einfach meinem Weg folgen, der mittlerweile gefährlicher geworden sein mag.« Er lächelte mir leicht grimmig über den Tisch hinweg zu. »Zudem könnte
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