Der Historiker
ich Ihnen das Schreiben von Anträgen für Forschungsgelder ersparen.«
Mir blieb ein trockenes Lachen in der Kehle stecken. Auf was um alles in der Welt wollte er hinaus? Mir kam der Gedanke, vielleicht seinen Sinn für Humor unterschätzt zu haben. Vielleicht war das alles ein ausgemachter Scherz – er besaß zwei Versionen dieses bedrohlich wirkenden alten Buchs in seiner Bibliothek, und eines davon hatte er in meine Koje gelegt, weil er wusste, ich würde es zu ihm bringen; und ich hatte ihm den Gefallen getan, wie ein Narr. Aber im Licht seiner Schreibtischlampe sah er plötzlich grau aus, mit abendlichem Bartschatten und dunklen Augenhöhlen, die alle Farbe und allen Humor aus seinen Augen saugten. Ich beugte mich vor. »Was versuchen Sie mir zu sagen?«
»Dracula… « Er machte eine Pause. »Dracula… Vlad Tepes lebt noch.«
»Großer Gott«, sagte mein Vater plötzlich und sah auf die Uhr. »Wieso hast du mir nicht gesagt, dass es schon fast sieben ist?«
Ich steckte die kalten Hände in meine marineblaue Jacke. »Ich habe es nicht gemerkt«, sagte ich. »Aber hör bitte nicht auf zu erzählen. Bitte nicht an dieser Stelle.« Für einen Moment schien mir das Gesicht meines Vaters unwirklich zu sein; niemals zuvor war mir der Gedanke gekommen, dass er vielleicht – ich wusste nicht, wie ich es nennen sollte – geistig aus dem Gleichgewicht geriet? Hatte er während seiner Erzählung für ein paar Minuten das Gleichgewicht verloren?
»Es ist spät für eine so lange Geschichte.« Mein Vater hob seine Teetasse und setzte sie wieder ab. Ich sah, dass seine Hände zitterten.
»Bitte, erzähl weiter«, sagte ich.
Er ging nicht auf mich ein. »Wobei ich sowieso nicht weiß, ob ich dich erschreckt oder gelangweilt habe. Du wolltest wahrscheinlich eine gute, einfache Drachengeschichte hören.«
»Aber es gab doch einen Drachen«, sagte ich und wollte glauben, dass er die Geschichte erfunden hatte. »Zwei sogar. Wirst du wenigstens morgen weitererzählen?«
Mein Vater rieb sich die Arme, als wollte er sich wärmen, und ich erkannte, dass er im Moment absolut gar nichts mehr sagen wollte. Sein Gesicht war finster, verschlossen. »Lass uns etwas essen gehen. Wir müssen sowieso noch unser Gepäck ins Hotel Turist bringen.«
»Einverstanden«, sagte ich.
»Hier werfen sie uns sowieso in einer Minute hinaus, wenn wir nicht vorher gehen.« Ich sah die hellhaarige Kellnerin an der Theke lehnen; es schien ihr egal zu sein, ob wir blieben oder gingen. Mein Vater zog seine Brieftasche hervor, strich eine der großen verblichenen Banknoten glatt, die alle einen Bergmann oder Landarbeiter mit heldenhaftem Lächeln auf der Rückseite aufgedruckt hatten, und legte sie auf das Zinntablett. Wir schoben uns zwischen den schmiedeeisernen Stühlen und Tischen hindurch und gingen durch die nässebeschlagene Tür nach draußen.
Es war finstere Nacht – eine kalte, neblig nasse osteuropäische Nacht, und die Straße lag nahezu ausgestorben vor uns. »Behalt die Kapuze auf«, sagte mein Vater wie immer. Kurz bevor wir unter die regennassen Platanen traten, hielt er plötzlich inne und streckte die Hand schützend vor mich, als käme ein Auto vorbeigefahren. Aber da kam kein Auto; von den Bäumen tropfte der Regen, und die ländlich wirkende Straße lag ruhig im gelben Licht der Laternen. Mein Vater sah scharf nach links und rechts. Ich glaubte, dass da niemand war, auch wenn mir die weit ins Gesicht reichende Kapuze teilweise den Blick nahm. Er lauschte, das Gesicht abgewandt, sein Körper stocksteif.
Dann atmete er kräftig aus, und wir gingen weiter und sprachen darüber, was wir im Turist zu Abend essen wollten.
Auf dem Rest der Reise fiel das Wort »Dracula« kein einziges Mal mehr. Bald schon erkannte ich, wie mein Vater mit seiner Angst umging: Er vermochte mir diese Geschichte immer nur in Bruchstücken zu erzählen, und dieses Auseinanderziehen diente keineswegs einem bewusst dramatischen Effekt, sondern er versuchte damit etwas zu bewahren – seine eigene Kraft? Seine geistige Gesundheit?
3
Als wir wieder in Amsterdam waren, war mein Vater ungewöhnlich schweigsam und beschäftigt, und ich wartete ungeduldig auf Gelegenheiten, ihn nach Professor Rossi fragen zu können. Mrs Clay aß jeden Abend zusammen mit uns im dunkel getäfelten Esszimmer, bediente uns von der Anrichte, saß aber im Übrigen wie ein Mitglied der Familie mit am Tisch, und ich spürte instinktiv, dass mein Vater in
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